Ein nicht nur maritimes Paradies in Galizien.
Wie das nun mal ist mit Legenden. Sie scheinen wahr zu sein. Zumindest in den sagenhaften Rías Baixas de Galicia. Geologisch sind die tief in das Land eindringenden Meeresbuchten nicht wie Fjorde und Förde durch Gletscher entstanden, sondern aus überfluteten Flusstälern. So wie in Galizien finden sie sich auch in der Bretagne, an der Ostküste Australiens, in Neuseeland und in Argentinien.
Aber bleiben wir bei den Rías Baixas in Galizien. Es war wie so oft. Sacha sprach von Michi, Michi von seinem Schwager Pepe, der dort lebt – und Pepe wiederum von einem Freund, der die vielen Fragen zu dieser Region beantworten konnte. Von ihm wollten wir mehr über diesen Zauber und zum Thema Paradies erfahren.
Der Mann, der dieses Märchen lebt, heisst Rafa Ortíz. Und angefangen hat alles, als er 2009 mit seiner Frau Nieves von Santander aus zu den Rías gesegelt ist. Als er dort ankam, wusste er, dass er angekommen war. Das war das Paradies. Also hat er schnell gehandelt. Sein Segelboot gleich da gelassen, ist mit seiner Frau in ein Taxi gestiegen, nach Hause gefahren und hat die nächsten Segeltörns geplant. Den nächsten bereits nach drei Tagen. Als er dann zwei Jahre später feststellen musste, dass man im Winter nicht auf dem Schiff leben kann, hat er sich nach einem Grundstück umgesehen und einen Architekten mit dem Hausbau beauftragt. Zwei Jahre später haben sie Madrid verlassen und sind mit ihren beiden Katzen Alice Cooper und Trufita de chocolate zurück zu ihrem Schiff und zu ihrem neuen Zuhause an der Ría de Arousa, der nördlichsten und grössten Ría. Nun kann er praktisch immer auf dem Wasser sein, mit seiner Frau, mit Freunden, nach Lust und Laune. Im Winter bei Temperaturen um die 15-17°C, max. halbmeterhohen Wellen, 9 Häfen und vielen Ankerplätzen. Hier hat man alles. Supermärkte, die den Einkauf zum Schiff bringen. Warenhäuser, Spitäler, Banken, sogar Kinos und alles, was eine Grossstadt bietet, auch in den umliegenden Dörfern. Dazu geschützte Nationalparks. Man kann ganzjährig auf dem Wasser sein, denn schlechtes Wetter hat man dort höchstens 20 Tage im Winter. Und mit dem Segelboot ist man in einer Stunde in einer grösseren Stadt, wie Vigo. Dort gibt es einen Flughafen, falls man das Paradies mal kurz verlassen müsste. Was bei Rafa selten der Fall ist, denn von diesem Paradies will er nie mehr weg.
Das Paradies ist ein Irrenhaus
Wenn er vor lauter Meer und Segeln, Lust auf Kultur in Form von Konzerten und gutem Essen verspürt, findet er alles im legendären ‘Náutico’. Seit 30 Jahren führt Miguel de la Cierva am Strand ‘Playa de la Barrosa’ in San Vicente do Mar die gelungene Mischung aus Bar, Restaurant und Konzertsaal, inzwischen ein Kultlabel. Miguel tischt hier zu den besten Paellas der Region die besten Musiker auf und organisiert die meisten Konzerte der Region. Im August bis zu 4 täglich. Jazz, Swing, Chansons, alles. Als Musiker (ehemaliges Mitglied der Band ‘Los Limónes’) und Toningenieur weiss er, was die Musiker, die bei ihm auftreten, brauchen. Was sie schätzen. Und das funktioniert. Sein Konzept für diese Kult-Oase hat derart Erfolg, dass er noch im 2019 langsam anfing zu überlegen, ob er nicht ein paar Gänge zurückschalten sollte. Zurück zu weniger Stress, weniger von allem, dafür mehr Qualität, mehr Ruhe und Gelassenheit. Und er hatte noch vor dem ersten Lockdown eine sehr gute Idee für einen Slowdown: Hidden program. So kommen die Besucher nicht nur für die bekannten Namen, sondern lassen sich überraschen und lernen dabei wunderbare neue Musiker kennen. Riskant, aber die Rechnung ging auf. Die Gäste ziehen mit und sind seiner Wohlfühloase treu. So nennt er auch die Währung im Náutico nicht Euro. Sondern Cariño. Und sein Lokal ‘un manicomio’, also ein Irrenhaus. Ein gutes Zeichen. Er selbst bezeichnet sich als Butler, als Frankenstein, ein Typ aus Organen anderer gemacht, halb Musiker, Techniker, Einsiedler. Sein Kultlokal hat Erfolg. Seine Konzepte gehen auf. Aber es soll nicht noch mehr wachsen. Es soll nicht zu schnell werden. Es soll so bleiben, wie es ist.
Lieber mehr Dornas
Wenn es im Náutico weniger hoch hergeht, wenn die Tage wieder kürzer werden, verzieht er sich auf seine Dorna, die früher seinem Vater gehörte. Sie wartet vor der Türe auf ihn. Die Dornas sind die traditionellen Fischerboote dieser Region, mit einem Segel, 2 Plätze und zwei Rudern. Sie bestehen ausschliesslich aus Holz und dienten früher nebst dem Fischfang auch als Transportmittel. Entsprechende Studien belegen, dass diese Boote von den Wikingern abstammen. Sie wurden speziell für die Rías Baixas eingeführt, wahrscheinlich als Kopien der Drakkar, mit denen die Wikinger während ihrer häufigen Invasionen im Mittelalter Santiago de Compostela belagert haben.
Und er hat ein ambitioniertes Projekt. Zusammen mit anderen Romantikern, die Dornas besitzen, möchte er eine Art Verein oder Club gründen, um dieses Erbe am Leben zu erhalten. Er träumt davon, dies alles zu realisieren. Im Winter dann. Wenn sein Leben wieder ruhiger wird und die Uhren langsamer laufen. Einen Strand voller Dornas vor der Haustüre. Das ist sein Traum. Und ich bin mir sicher, dass wir uns auch diesen Traum bald anschauen können. Was für ihn das Wichtigste im Leben sei? Geniessen. Und sich darüber bewusst werden, wenn die guten Momente stattfinden.
Vom Náutico segeln wir zur Nautilus
Zurück zu den Legenden. Ganz in der Nähe liegt die Insel San Simón. Sie war entlang ihrer Geschichte Zeugin vieler Korsarengeschichten, Tempelmönche, Schlachten, verborgenen Schätzen und Reisende aus fernen Gegenden. Die Tempelritter befreiten sie von der römischen Besetzung im XII Jahrhundert durch den Bau eines Klosters, das sie an Franziskaner-Mönche übergaben. Jahrzehnte später ging das Kloster an die spanische Königin Isabel la Católica. Und seit der Seeschlacht von Rande im 1702, bei der die Borbonen besiegt wurden, vermutet man bis heute, dass das Gold aus versenkten Galeonen noch immer in der Tiefe des Meeres sei. Nachdem die Insel während des spanischen Bürgerkriegs als Konzentrationslager für Regimegegner diente, wurde sie zwischen 1936 und 1943 zu einem der grausamsten Plätze der Diktatur. Die meisten der 6000 Gefangenen wurden hier erschossen. Nach diesen Ereignissen ging sie dazu über, ein nicht gerade touristischer Ort von Galizien zu sein. Heute ist sie unbewohnt, aber ihre reiche Geschichte auf derart kleiner Fläche strahlt eine gewisse Magie aus und ist ein Must für jeden, der die Abenteuer und die Geschichte der Vergangenheit nachempfinden, darüber nachdenken möchte. Aus diesem Grund und zum Gedenken der Opfer, stellte man sie unter Naturschutz. Heute kennt man sie als die ‘Insel der Gedanken’, die Denker aus der ganzen Welt anlockt. Die Insel hat viele Rollen gespielt, für Jules Verne oder Sir Francis Drake. Irgendwie scheint sie sehr günstig zu liegen. Sie hat Leprakranke, Waisenkinder, Republikaner, Regimegegner, Piraten beherbergt.
Es war ebenfalls auf der Insel San Simón, auf der Jules Verne seinen Kapitän Nemo dem Gefangenen Aronnax stolz einen detaillierten Bericht zur Lage in der Bahía de Vigo verkünden lässt, um ihm am Schluss mitzuteilen, dass es ganz von ihm, Aronnax, abhängen würde, ob er diese Geheimnisse noch kennenlernen würde. Und damit beschrieb er genau die Situation in Vigo, wo tatsächlich nach dem versunkenen Gold getaucht wurde. Bis heute jedoch ohne Erfolg.
Aber die Legenden sind schön.
Sie laden uns zum Träumen an. Sie verführen uns, an sie zu glauben. Und das Beste kommt bekanntlich am Schluss. Oder besser gesagt, am Anfang. Die grösste Legende dieser Region ist zweifellos die Entstehung der Rías Baixas. Hier hatte nämlich Gott seine Hand im Spiel, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn nachdem er die Erde erschaffen hatte, war er müde. Beim Ausruhen stützte er sich mit seiner Hand auf Galizien und hinterliess dabei die Spuren seiner Finger.
Ich wage jetzt kühn die Behauptung, dass es seine rechte Hand war. So kann niemand behaupten, er hätte die Rías mit links erschaffen. Schliesslich sollte man auch bei Legenden auf Stil und gute PR achten. Und ich überlege immer noch, ob man sich beim Navigieren auf den Rías Baixas wirklich wie im Paradies fühlt, so wie Rafa das für sich entdeckt hat. Stephan Sulke, der ja seit Jahren am Mittelmeer lebt, behauptet in einem seiner Songs, das Paradies sei doch gar nicht erst für morgen. Es läge vor der Tür. Und jedes Mal, wenn ich das Lied gehört habe, habe ich immer zuerst überlegt, ob ich mich in einem Paradies überhaupt wohl fühlen würde. Ob man da darauf achten sollte, dass man sich nicht in der Nähe von Apfelbäumen aufhält. Hab mich gefragt, ob man sich auf solchem Boden streiten und bekriegen darf. Ob ich die passenden Schuhe dafür hätte. Und ganz wichtig: Ob man es problemlos wieder verlassen könnte. Evakuieren kommt ja nicht umsonst von Eva. Würde auf alle Fälle beim Einchecken kontrollieren, ob da Fluchtwege sind. Die Durchschnittstemperaturen anschauen. Und da wäre auch diese Angst, mich zu fragen, ob ich meines vielleicht gerade verlassen hätte.
Also einigen wir uns darauf, dass man Paradiese nicht ansteuern kann. Dass es keine Orte sind, sondern Momente. Wenn wir die Segel setzen, zum Beispiel. Mit den Winden spielen, oder sie mit uns. Es überrascht hier sicher niemanden, dass diese temporären Zustände meistens in direktem Zusammenhang mit Wasser, Meer und Sonne stehen. Die Rías Baixas erfüllen viele dieser Voraussetzungen und sind sicher einen Besuch – und damit den Versuch wert, ein Paradies zu entdecken. Schliesslich hat man auch hier die Garantie, dass auf dem Wasser keine Apfelbäume wachsen.