Bis ans Limit und drüber hinaus
Sie liebt es! Sie muss es lieben. Sonst kann man sich kaum erklären, warum Heidi mit fast 50 Knoten auf einer Speedneedle über betonhartes Wasser brettert. Die Boardbezeichnung Needle beschreibt bereits, dass jeder Fahrfehler Zeit oder im schlimmsten Fall einen Tribut an die Gesundheit kosten kann. Heidi Ulrich aus Flüelen am Urnersee weiss, wie sich Windsurfen am Limit anfühlt, denn sie kämpft seit Jahren um jedes Zehntel hinter dem Komma. 2023 ist ihr Jahr der Belohnung. Seit August hält Heidi alle Speedrekorde der Frauen in der Hand. Über die harte Arbeit hinter jedem Sekundengewinn und warum sie windsurft, obwohl sie kein Wasser mag – ein Blick in ein Leben, das von Zahlen geprägt ist.
Ab 7 Windstärken mutiert jeder Traumstrand zum Turbo-Sandstrahler. Nur wenige lieben dieses wehtuende Peeling. Wenn Sonnenanbeter die Flucht ergreifen, macht sich Heidi Ulrich mit ihrem Partner und Trainer Christian an die Arbeit. Den nadelnden Sand vom Tramontana im Rücken checken und messen sie jedes Detail an Windstärke, Wellenhöhe und Windrichtung. Board, Segel, Finne und die exakte Kilozuladung der Gewichtsweste werden getrimmt, getunt und getestet. Dann geht’s ab aufs Wasser. Das Ziel: Highend-Geschwindigkeit. Immer Vollgas. Immer Maximum und die GPS-Grenze überschreiten. Das bedeutet momentan im offenen Gewässer, mehr als 46.2 Knoten im Topspeed zu überbieten. Eine Messlatte, die Heidi 2023 selbst platziert hat.
FASZiNATiON TRiFFT AUF EHRGEiZ TRiFFT AUF CRAZYNESS
WAVE: Völlig abgefahren! Du bist mit 38 Jahren Weltmeisterin im Speedsurfen obwohl du erst vor 10 Jahren mit dem Windsurfen begonnen hast. Wie kamst du zu dem Sport?
Heidi Ulrich: (lacht) Bis 2013 interessierte ich mich nicht für Wassersport. Eigentlich hasse ich Wasser und bekomme ohne Brett schnell Panik. Meine Leidenschaft war Volleyball. Remo, der Bruder von Patrik Diethelm, war damals mein Freund. Patrik und seine Partnerin Karin Jaggi gehören zur weltweiten Windsurf-Elite. Da kam ich gar nicht drum rum, mich mit dem Thema Windsurfen auseinanderzusetzen. Mit ihnen flog ich nach Namibia und habe das erste Mal den Speedkanal in Lüderitz gesehen. Ich war sofort fasziniert. Als ich Patrik und Remo durch den Kanal fräsen sah, wusste ich, das will ich auch. Ich habe mir die Disziplin nicht bewusst ausgesucht. Ich habe einfach keine Angst vor Geschwindigkeit.
Du gibst also gerne Gas. Ist es das, was dich reizt?
Ich bin sehr ehrgeizig und bin bereits 2015 bei einer Défi in Gruissan in Südfrankreich mitgefahren. Ein Speedrace, bei dem ich «just for fun» getestet habe, wie schnell ich mit meinen bis dahin begrenzte Fähigkeiten kam. Ich konnte noch nicht einmal Wasserstarten oder in den Schlaufen fahren. 2018 habe ich beim «Prince of Speed» meinen ersten Weltrekord geholt. Der wurde nach 5 Tagen wieder getoppt, aber egal. Ich war geflasht.
Nach 10 Jahren bist du an der Spitze angekommen. Den 5. Weltrekord geknackt und den Titel der Weltmeisterin in der Tasche stehst du an der Weltspitze der Speed-Frauen. Ist es so leicht, das Limit zu erreichen?
Das sieht vielleicht so locker aus, aber das ist es nicht. Es ist ein bisschen wie mit dem Pareto-Prinzip. Für 80% Leistung ist der Aufwand nicht so gross. Aber wenn man die letzten 20% ausreizen will, muss man viel Zeit und Arbeit investieren. Für die Weltmeisterschaft und den Weltrekord im Kanal habe ich knochenhart trainiert.
VON 0 AUF 49.94 KNOTEN
In der Schweiz gibt es bekanntlich nur wenige Sturmtage, um für den maximalen Speed zu trainieren. Wie machst du das?
Ich wohne seit 7Jahren am Urnersee – 100m vom Wasser entfernt. Der See ist einer der wenigen Surfspots der Schweiz, der Starkwind verspricht und hält. Natürlich nicht jeden Tag. Zusammen mit Christian, der mich beim Training begleitet, nutze ich jede Böe vor unserer Haustür. Bei Leichtwind fahren wir Slalom-Boards. Wann immer wir Zeit haben, nutzen wir die Highwind-Laborbedingungen in Südfrankreich, um für die Wettkämpfe zu trainieren. Letztes Jahr waren wir fast ein halbes Jahr an der französischen Mittelmeerküste. Die Zeit für die Rekordversuche eingerechnet. Pro Jahr komme ich auf ca. 300 Trainingstage auf dem Wasser. Zusätzlich kommen noch 2-3 Stunden Training pro Tag für Beweglichkeit, Stabilität, Kraft und Ausdauer. Die absolviere ich in der Natur mit Biken, Klettern, Wandern, Schwimmen oder im Winter Schneesport.
100%
HÖCHSTLEiSTUNG UND 100%
EiNSATZ
Wow – das ist ein grosses Zeitin- vestment. Du arbeitest auch noch nebenbei. Wie schaffst du das alles?
Ich arbeite im Personalwesen in einem grossen Energiekonzern. Nicht nebenbei, sondern 100%. Ich habe lange die Abteilung HR geleitet und versucht, Training und Job mit meinem gleichen Anspruch an Höchstleitung zu kombinieren. Das bedeutete, Einsatzbereitschaft 24/7 bei 4 Stunden Schlaf täglich. Im Job und Sport wollte ich 100% mental fit sein. Das brachte mich an meine Belastungsgrenze. Dank der Bereitschaft meines langjährigen Arbeitgebers konnte ich Verantwortung im Job abgeben und wurde um meinen Sport herum gestaltet. Jetzt schätzen sowohl meine Firma als auch ich, die Möglichkeit der Flexibilität. Ohne Christian hätte ich den Prozess nicht bewältigt.
IMMER
WIEDER
IN DIE
RADARFALLE
Den Zahlen nach dem Komma hinterherzujagen ist in einer Natursportart sicherlich anstrengender als auf einer Tartanbahn. Welche Herausforderungen gibt es?
Sobald Tramontana angesagt ist, heizen wir nach Südfrankreich. Nach Gruissan oder La Palme/Leucate. Um optimal zu trainieren, brauchen wir nicht nur starken Wind, sondern den richtigen Winkel. Wenn beides nicht exakt zusammenstimmt, bildet sich Welle und man kann den Effekt des spiegelglatten Wassers nicht mehr nutzen. Manchmal können wir nur eine Stunde täglich trainieren. Das ist frustrierend. Noch grösser ist der Aufwand bei den Rekordversuchen im Speedkanal in Namibia. Letztes Jahr konnte ich während 4 Wochen nur an den letzten 3 Tagen Rekordversuche starten. Da ist es schwierig, konzentriert und fokussiert zu bleiben.
Das hört sich anstrengend an.
Das ist es auch. Es ist wichtig, dass man bei Rekordversuchen viele Läufe macht. Bei den Speedmessungen im Kanal bedeutet das, dass man die Strecke bis zu 20-mal am Tag fährt. Vorausgesetzt, die Bedingungen sind gut. Ich bin oft die Erste und die Letzte auf dem Wasser. Wenn man nicht bereit ist, so viel als möglich Runs zu fahren, dann hat man auch keinen Weltrekord verdient. Auf dem Meer surft man so nahe als möglich am Strand und fährt dann mit dem Strandbuggy wieder zurück. Aber manchmal muss ich auch aufkreuzen. Dazu brauche ich bis zu 45 Minuten und enorm viel Kraft, um mit einem schmalen Brett gegen Minimum 8 Bft anzufahren.
SCHALLMAUER DURCHBROCHEN
Dein hartes Training zahlt sich aus. Den Titel der Weltmeisterin hältst du erstmals in den Händen und fast monatlich brichst du deine eigenen Rekorde. Warum hast du gerade einen Run?
Ja, es ist Wahnsinn! Auf den Titel als Weltmeisterin bin ich sehr stolz. Ausserdem habe ich 2022 den langersehnten Speed-Weltrekord in der Königsdisziplin über 500m im Kanal in Namibia gebrochen und den Zeit über eine Nautische Meile um 1 Knoten verbessert. Beim Speedsurfen gilt: “Records are made in conditions.” Jede Person hat ihre Lieblingsbedingungen für Höchstleistungen. Es kommt darauf an, ob man gerade einen Lucky Shot hat. Das bedeutet, zur richtigen Zeit die richtige Böe erwischen. Aber Weltmeisterin zu sein heisst, mehr als an einem Tag einen guten Lauf zu haben. Die letzten Jahre habe ich sehr viel in Training investiert und stand oft nur wenige Zehntel-Sekunden vor dem Rekord. Dieses Jahr liefs einfach gut. Ich glaube, es liegt daran, dass ich Spass am Speedsurfen habe.
QUEEN ZWiSCHEN
KiNGS
Geschwindigkeit ist in den Köpfen Vieler Männersache. Wirst du als 70 kg-Frau unter den 100 kg-Männern ernstgenommen?
Bei der Weltmeisterschaft waren wir 7 Frauen und 50 Männer und bei den Weltrekord-Versuchen liegt die Quote bei ca.1:10. Meine grösste Mitstreiterin ist Zara Davis (GB), der ich den Speedrekord abgenommen habe. Momentan reizt es mich aber eher, in der Männerkategorie mitzumischen. Natürlich macht es einen Unterschied, ob man wie ich 170 cm gross und 70 kg wiegt oder wie manche Männer bei 200 cm und 100 kg liegt. Ich fahre bei den gleichen Windstärken und oft mit der gleichen Segelgrösse, muss aber andere Techniken einsetzen. Vor ein paar Jahren wurde ich eher belächelt. Immerhin tummeln sich in der Szene langjährige Koryphäen im Windsurfsport, wie Björn Dunkerbeck (E) und Antoine Albeau. (F). Als ich gegen Ende 2022 als erste Frau unter den Top 10 war, merkte ich, dass ich mit den Männern auf Augenhöhe war. Respekt bekommt man als Frau nicht geschenkt, den muss man sich erarbeiten. Dafür ist er dann umso grösser.
OOPS!
SHE WANTS iT AGAiN!
Was gibt es für dich noch zu erreichen, wenn du schon an der Spitze stehst?
Ich will noch einmal den Weltmeistertitel holen. Ausserdem will ich im Speed-Kanal in Namibia die 50 Knoten knacken. Ich bin bereits zweimal 49.94 Knoten gefahren.
Immer am Limit zu fahren ist sicherlich nicht gesund.
Mir ist bislang noch nie etwas Ernsthaftes passiert. Ich stürze zum Glück sehr wenig, weil ich immer hochkonzentriert bin und das Risiko abwäge. Ein Sturz mit 80km/h kann fatale Folgen haben. Ich muss immer auf meine Balance zwischen der Belastungsintensität bei der Arbeit, meinem Privatleben und der Belastung meines Körpers achten.
LiCENCE TO WiN
Denkst du ans Aufhören?
Die Überlegungen sind bereits in meinem Kopf. Christian und ich haben viele sportliche Hobbys, die aufgrund des Speedsurfens immer zu kurz kommen. Ich kann meinen Ehrgeiz auch mal zurückstecken.
Wirklich?
(lacht) Naja, Christian meint, mit meinem Ehrgeiz kann ich auch in anderen Sportarten vorne mit dabei sein. Zum Beispiel im Freeride beim Snowboarden könne er mich zur Weltmeisterin machen.
Christian, du bist Heidis Trainer und Lebenspartner. Warum willst du Heidi immer zu Weltmeisterin machen?
„Weil es so einfach ist. (beide lachen)
Heidi Ulrich
Jahrgang 1984
Grösse 173
Gewicht 70-75kg
Homespot Flüelen, Urnersee
Windsurft seit 2013
Leitsprüche „Wenn du nicht probierst, hast du schon verloren»
«Wenn du etwas beginnst, dann ziehe
es durch»
Weltrekordhalterin Average-Speed über 500m: 47.06 kn
Maximum-Speed über 2 Sek:49.94 kn
Nautische Meile: 37.7 kn
Open Ocean: 45.6 kn
Kanal von Lüderitz – offizielle Weltrekord-Location
Länge 800m
Breite 5 – 7 m
Tiefe 30-50 cm
Messungen Average-Speed 500m und
Maximum-Speed 2 Sek
4-6 Wochen jährlich offen für
Speedrekord-Versuche