Il Ferro und die Geheimnisse Venedigs

Der Schweizer Fotograf Jürg Kaufmann verliebte sich schon vor mehr als 20 Jahren in die legendäre Lagungenstadt und ihre ganz besondere Ästhetik. Die Gondel steht wie kaum etwas anderes als Symbol für Venedig, natürlich hat auch sie ihre lange und eigene Geschichte.

La Serenissima, die Schöne, verteilt sich auf 127 Inseln in der Lagune, etwas mehr als die Hälfte der Gesamtfläche Venedigs besteht aus Wasser. Seit 1987 gehören die historische Stadt und ihre Lagune zum Weltkulturerbe, ein typisches Wahrzeichen sind die Gondeln, das traditionelle Transportmittel vor allem der adligen Bewohner des einst so mächtigen Stadtstaates. Seit Jahren allerdings droht La Serenissima unter dem Ansturm ihrer „Liebhaber“ aus der ganzen Welt zu ersticken. #EnjoyRespectVenezia ist die Sensibilisierungskampagne der Stadt Venedig, welche an die Besucher appelliert, sich verantwortungsbewusst und respektvoll gegenüber der Umwelt, der Landschaft, der historischen Bauwerke und der Bewohner zu verhalten. Doch bei allen aktuellen Themen gibt es sie immer noch, die gut gehüteten Geheimnisse Venedigs. Doch dafür muss man über den Tellerrand schauen. Venedig im Herbst oder Winter besuchen, früh aufstehen und sich abseits der Massen halten. Und selbst dann wird man sie nicht unbedingt entdecken. »I segreti più segreti di Venezia sono quelli che si custodiscono da soli«, die bestgehüteten Geheimnisse Venedigs sind die, die es für sich behält, sagt ein altes venezianisches Sprichwort.

Meine Verbundenheit mit Venedig und Freundschaft mit einigen ihrer Einwohnern begann vor mehr als zwanzig Jahren. Es war an einer Mannschaftsregatta der Optimisten-Klasse, bei der ich als Team Race Umpire mit den Venezianern dabei sein durfte. Eine unvergessliche Erinnerung sind die abendlichen Heimfahrten mit den Wettfahrtleitern Giorgio und Dodi. Im Schlauchboot durch die Lagune zum Canal Grande zu fahren und das Boot in einem Seitenkanal unweit der Rialto Brücke vor der Haustür anbinden.

Schon damals sagten die beiden: »Heute sind wieder zu viele Touristen unterwegs, lass uns in die Bar gehen und einen “Spritz” trinken, dort sind wir noch unter uns«. Die Venezianer leiden unter den Massen an Tagestouristen, die ihre Gassen füllen und die Preise in die Höhe treiben. Wer also nach Venedig reist, sollte bedenken, dass diese einzigartige Stadt hart daran arbeiten muss, die alten Kulturen und Traditionen zu wahren.

Heute irren die Touristen durch die Gassen, von der Navigationsfunktion auf ihren Mobiltelefonen nur selten gut geführt. Doch wer mit einem Venezianer unterwegs ist, merkt schnell, dass man fast jeden Punkt der Stadt von überall her in nur fünf bis zehn Minuten erreichen kann. Wenn man die Gassen und alle praktischen Abkürzungen kennt.

La Gondola

Und die Hauptstraßen sind eben immer noch die Kanäle, das Transportmittel die Gondel. Mich faszinieren die Gondeln schon seit vielen Jahren. Seit dem 11. Jahrhundert gibt es sie, bis 1562 waren sie farbig. Venezianische Adlige überboten sich gegenseitig in der prachtvollen Ausstattung ihrer Boote. Um der ungezügelten Prunksucht schließlich Einhalt zu gebieten, erließ der Senat von Venedig 1562 ein Dekret, das eine einheitliche schwarze Ausstattung für alle Gondeln vorschrieb.

Eine Gondel besteht aus etwa 280 Teilen, wiegt um die 600 Kilo, ist 10,83 bis 11,1 Meter lang, 1,38 bis 1,42 Meter breit und wird aus acht verschiedenen Holzarten gebaut, darunter Fichte, Kirsche und Erle. Der Bau einer Gondola benötigt zirka 500 Arbeitsstunden, dauert also mehrere Monate. Die wenigen Werften, die Gondeln bauen dürfen, nennt man Squero. Die Bootsbauer, genauer: Gondelbauer, sind daher die Squeraroli. Das Squero von Crea auf der Insel Giudecca durfte ich ausgiebig fotografieren.

Wer genau hinschaut, merkt, dass die Gondeln nicht symmetrisch gebaut sind. Die linke Seite ist länger, um das Gewicht des Gondoliere auszugleichen und sicherzustellen, dass sie geradeaus fährt. Der Gondoliere steht immer an der Backbordseite seiner Gondel und führt das Ruder auf der rechten Seite, an Steuerbord.

Il Ferro di Prua

Jede Gondel hat ein auffälliges Eisen am Bug. Einst war dies ein fest montierter Sporn, Pettine genannt, der weniger zur Dekoration als tatsächlich mehr als Waffe diente. Denn immer mal wieder mussten die Gondoliere mit ihren Booten bei der Verteidigung der Stadt oder der Lagune helfen. Heute ist il ferro, das Eisen, rein dekorativ. Mit seinen Zacken symbolisiert es die sestieri, die sechs Stadtteile von Venedig: San Marco, Dorsoduro, San Polo, Cannaregio, Castello und Santa Croce. Der nach hinten gerichtete Zacken steht für die Insel Giudecca, wo die Gondeln von Crea gebaut werden.

Der Bogen oben am Ferro ist der Capello del Doge, der Hut des Dogen. Dies symbolisiert die Autorität und die Geschichte der venezianischen Herrscher. Der Bogen unterhalb des Capello del Doge steht für die Rialto-Brücke, die älteste der vier Brücken über den Canal Grande. Die geschwungene Form des gesamten Eisens schließlich repräsentiert den Canale Grande selbst, quasi die Hauptstraße von Venedig.

Der Gondoliere, eine stolze Schlüsselfigur

Ein Gondoliere wird man nicht einfach so. Es ist ein Privileg, diesem traditionsreichen und edlen Berufsstand angehören zu dürfen, das Recht dazu wird seit dem 16. Jahrhundert von Generation zu Generation vererbt. Die Herren in ihren schwarz-weiß gestreiften Hemden und schwarzen Hosen sind weit mehr, als nur maritime Taxifahrer oder Touristenführer – schon immer waren sie die Hüter der Geheimnisse und Skandale der Stadt, während der Fahrten durch die Kanäle wurde ihnen so manches anvertraut. Heute gibt es etwa 450 Gondoliere und eine Gondoliera: 2010 bestand die erste Frau, Giorgia Boscolo und natürlich Tochter eines Gondoliere, die Prüfung als erste Gondoliera überhaupt.

Crea, der Letzte einer alten Garde der Squeraioli

Die »Regata storica« gilt als die Mutter aller Regatten, zumindest hat diese Veranstaltung den Begriff geprägt. Ihren Ursprung hat sie im 13. Jahrhundert, heutzutage findet sie jeweils am ersten Sonntag im September auf dem Canal Grande statt und erinnert an die stolze Geschichte Venedigs. Im Zentrum der Aktivitäten stehen seit 1841 die Ruderregatten der Gondeln. Die Regatta gab es zwar schon zuvor, doch mit dem Ende der Republik Venedig 1797 war es auch mit ihr zunächst zu Ende. 1899 wurde die Veranstaltung unter dem Namen Regata storica bekannt.

I re del remo, das ist der König der Ruder. Das ist Vianello Gianfranco Crea, der die Regata bis heute sieben Mal gewann. Er ist der Gründer der Gondelwerft »Cantiere Nautico Crea«, von den Venezianern wird er auch einfach »Lo Squero di Crea« genannt. Sein Debüt auf dem Canal Grande fand 1967 statt. Zusammen mit Palmiro Fongher gewann das Duo erstmals 1976 die Regata Storica.

Als Junge besuchte Gianfranco Crea eine Kunstschule, wo er die alte Technik der Holzschnitzerei erlernte und sich dann auf den nautischen Bereich spezialisierte. Nachdem er die Prüfung zum »Meister der Axt« bestanden hatte, besuchte er die Schule der Alten Meister. Nach Jahren als Gondoliere und Fischer in der Lagune brachte er schließlich seine ganze technische Erfahrung und seine Leidenschaft in traditionsreichen Beruf des Gondelbauers ein und gilt heute als Maestro dei Squeraioli.

Der Löwe von San Marco

Im Jahr 828 brachten venezianische Seefahrer die Reliquien des Evangelisten Markus aus Alexandria nach Venedig. Dadurch wurde Markus zum Hauptpatron der Stadt und Venedig zu einem bedeutenden christlichen Pilgerziel. Die Stadt nannte sich fortan »Serenissima Repubblica di San Marco« und führte den Markuslöwen im Wappen, ein Symbol, das auch in den ehemaligen venezianischen Kolonien zu finden ist. Der Markuslöwe wird typischerweise mit einem Buch dargestellt, das die Worte »PAX TIBI MARCE EVANGELISTA MEUS« (Friede sei mit dir, Markus, mein Evangelist) trägt.

Zu Friedenszeiten ist das Buch offen, zu Kriegszeiten ist das Buch geschlossen. Im staatlichen Wappen der Infanterie ist der Löwenschwanz unten, da sie an Land unterwegs ist. Anders bei der Marine, dort zeigt der Löwenschwanz nach oben. Da ist er ganz wie ein Segler, denn der Markuslöwe mag es nicht, wenn er nass wird… 

Solche und viele andere Geschichten lernt man hier mit der Zeit. Venedig mit Venezianern zu entdecken, ist ein echtes Privileg. Nicht nur die Abkürzungen kreuz und quer durch das Labyrinth der Gassen und Brücken sind beeindruckend, sondern eben auch die Geschichten und historischen Hintergründe, die sie erzählen und lehren.

Mein Zuhause in der Stadt ist die »Residenza Ducato«, ein kleines Hotel in San Marco, nicht weit vom Ponte Rialto und dem Teatro la Fenice. Es ist ein kleines Paradies inmitten der Gassen von Venedig, das von dem italienischen Drachensegler Pietro (genannt Dottore) und seiner Mitarbeiterin Paula geführt wird. Heute dekorieren einige meiner Fotos die Wände der Residenz und ich bin gespannt, welche Geheimnisse mir der Dottore, Paula und Dodi in Zukunft noch verraten werden.

Jürg Kaufmann

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