Zehn Jahre ist es jetzt her, dass die französische Seglerin Florence Arthaud unsere Welt verliess. Trotz eindrucksvoller Siege auf dem Wasser haderte sie mit dem Leben… an Land. Die Geschichte einer Rebellin mit grossen Träumen.
Es musste ja so kommen. Als Tochter des Verlegers Jacques Arthaud wächst Florence mit den Büchern von Seefahrern wie Bernard Moitessier und Éric Tabarly auf, die ihr Vater publiziert. Segeln ist nicht nur eine Familienangelegenheit, sondern eine Ausbildung und noch viel mehr: eine Leidenschaft. Mit ihren beiden Brüdern und ihrem Vater beginnt sie schon sehr jung damit und holt sich ihr Rüstzeug im Segelclub von Antibes. Mit dem älteren Bruder Jean-Marie und dem jüngeren Hubert lässt die burschikose Flo nichts anbrennen. Das Leben ist ein Abenteuerspielplatz, egal ob am Meer oder in den Bergen. Doch die unbeschwerte Kindheit wird durch einen schweren Autounfall gestoppt. Nach Koma und Lähmung folgt eine lange Genesungsphase von zwei Jahren. Wieder auf den Beinen, ist ihr Wunsch nach Freiheit und Abenteuerriesengross. Und das Meer verspricht die beste Heilung: «Ich muss in See stechen.» Diese Worte hinterlässt sie auf ihrem Kopfkissen, als sie mit 17 Jahren das Elternhaus verlässt. Sie hat ihr Abitur in der Tasche, bricht ihr Medizinstudium jedoch nach zwei Monaten ab. Obwohl noch geschwächt, unternimmt sie ihre allererste Atlantiküberquerung auf einer Yacht, die von der Transat nach Frankreich zurückkehrt.
«Zum ersten Mal den Atlantik überqueren. Das ist für mich ein echter Wendepunkt. Ich entdecke Tage, die vom Sonnenuntergang oder Mondaufgang bestimmt sind, die Zeit, die stillsteht, die Ewigkeit dieser Momente. Die Sterne, der grenzenlose Himmel, die Krümmung des Horizonts, die unendliche Welt, das Rauschen des Ozeans, die Gesellschaft der Delfine, das Atmen der Wale. Alles ist neu für mich, alles hat sich verändert. Ich fühle mich frei und leicht. Ich vermisse das Land nicht. Ich habe gerade meinen geheimen Garten, mein eigenes Universum entdeckt», schreibt sie in ihrer Autobiografie «Un vent de liberté, mémoires»
(Ein Wind der Freiheit, Erinnerungen), Éditions Arthaud, 2009.

Später nimmt sie ihr Schicksal wiederum selbst in die Hand und folgt ihrem Stern – an der Pinne eines Bootes, das sie alleine steuert. Mit gerade einmal 21 Jahren beginnt Florence Arthaud das grosse Abenteuer ihres Lebens. Die Route du Rhum startet zur ersten Ausgabe, sie ist als jüngste Teilnehmerin dabei. Die jugendliche Skipperin mit den Zöpfen wird rasch zum Publikumsliebling. Am Start in Saint-Malo sind auch die Neider nicht weit. Aber Florence ist nicht Papa’s Tochter aus gutem Hause, die ihr Segelschiff zum Geburtstag geschenkt bekam. Ganz im Gegenteil. Ohne Sponsor hat sie sich für den Bootskauf ihrer XPérimental, einer Frioul 38 mit Pinnensteuerung, verschuldet. Umso mehr ist sie bereit, alles zu geben. Sie beendet die Regatta auf dem 11. Platz, als Zweite in ihrer Kategorie und als erste Frau. Als sie in Guadeloupe die Ziellinie sieht, denkt sie schon an den nächsten Start. «An diesem Tag haben die Landbewohner eine der ihren an die Seefahrer verloren,» schreibt sie in ihrem Buch «Océane».
Sie verkauft ihr erstes Boot und legt sich eine schnellere Yacht zu. Doch auch die ist ihr zu langsam. Den nächsten 21-Meter-Racer mietet sie, denn mit Biotherm hat sie endlich einen passenden Sponsor gefunden. Nach mehreren Atlantikrennen landet sie einen Glückstreffer. Der Immobilienunternehmer Christian Garrel finanziert ihr den Bau eines Trimarans, Pierre 1er. Damit kann sie es endlich mit ihren schnelleren männlichen Kollegen aufnehmen. Und Florence lässt es richtig krachen. Nach einer pompösen Taufe auf der Seine in Paris geht es Schlag auf Schlag. Im August 1990 pulverisiert sie den bestehenden Atlantikrekord von Bruno Peyron um fast zwei Tage. Im November beweist sie, dass diese Leistung kein Zufall war. Bei ihrer vierten Teilnahme an der Route du Rhum siegt sie mit ihrem goldglänzenden Trimaran souverän und wird damit die erste Frau der Siegergeschichte dieser Regatta. Dabei lief es gar nicht gut für sie. Am Start plagt sie ein Bandscheibenvorfall, unterwegs erleidet sie eine Fehlgeburt. Nach dem Ausfall ihres Autopiloten und ihres Funkgerätes erfährt sie erst kurz vor der Ankunft, dass sie in Führung liegt – vor den Cracks wie Laurent Bourgnon, Mike Birch und dem vorherigen Gewinner Philippe Poupon.


Unangepaast, rebellisch, freiheitsliebend…
DIE KLEINE VERLOBTE DES ATLANTIKS… IST EINE PIRATIN
Als die ersten Schlagzeilen über ihre Segelerfolge erscheinen, bekommt sie auch gleich einen Spitznamen verpasst. Das romantische Mädchen mit den lustigen Zöpfen wird von den Medien als la petite fiancée de l’Atlantique etikettiert. Doch mit jeder Regatta im Männermilieu passt sich Florence dem rauen Ambiente auch äusserlich an. Die niedlichen Zöpfe verwandeln sich in eine wallende Löwenmähne und ihre grande gueule (grosse Klappe) wird gefürchtet, da sie kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Gelegenheit, um die Welt zu segeln, lässt sie sich nicht entgehen. So gehört sie 1989/90 zur Whitbread-Crew auf Charles Jourdan mit Skipper Alain Gabbay. An Land lebt die Skipperin wie auf dem Meer: wie nach einem Wachplan auf dem Wasser macht sie die Nacht zum Tag, verabscheut offizielle Auftritte und kommt mit wenig Schlaf aus. Den holt sie sich während Taxifahrten, im Flugzeug oder in Bahnhofs-Warteräumen. Sie pfeift auf gesellschaftliche Regeln, segelt mit einer Kippe im Mund und im Punk-T-Shirt über die Ziellinie. Mit ihren Segelkumpanen feiert sie ausgelassen und trinkt gerne ein paar Drinks über den Durst. Neue Sponsoren sucht sie in Nachtclubs und Bars – erst trinken, dann tanzen und am nächsten Tag nach Geld fragen – so sieht ihre Strategie aus.
Genauso unorthodox ist ihr Liebesleben. Ihre Beziehungen dauern nur kurz, Florence ist viel zu impulsiv und unbändig. Sie geniesst die neuen Freiheiten, welche die Zeiten für Frauen bringen: die Pille, die Abtreibung, die freie Liebe. Doch auch die Immobilienkrise ist ein Teil dieser Zeit. Die Bauflaute trifft ihren Sponsor, der trotz der erfolgreichen sportlichen Kampagnen keine Mittel mehr für einen neuen Trimaran aufbringen kann.



Bild links: Florence mit Philippe Poupon
GROSSE TRÄUME – UND DIE HARTE REALITÄT
Noch geniesst sie ihre Popularität. Sie erscheint auf den Covers von ELLE und Paris Match, bringt mit Pierre Bachelet drei Chansons heraus und freut sich über die Anerkennung, als sie vom Magazin L’Esprit als erste Frau zum Champion aller Champions gewählt wird. Zusammen mit Titouan Lamazou, der wie sie 1990 seinen ersten grossen Erfolg (Vendée Globe) feiert, legt sie die Basis für das Rennen aller Rennen: die Jules Verne Trophy. Die beiden seelenverwandten Rebellen und grossen Träumer wollen keine Reglementierung für ihre Trophy – die schnellste Yacht soll sie holen. Mit der Unterstützung von Peter Blake und Robin Knox-Johnston bekommt ihr Projekt internationale Anerkennung und bei der Vorstellung im Yacht Club de France sind neben Segelikone Bernard Moitessier gleich drei Minister anwesend. Ironie des Schicksals: beide Initianten schaffen es nicht, selbst auf Rekordjagd zu gehen. Lamazou verliert seinen Schooner TAG Heuer bereits kurz nach dem Stapellauf, Florence kämpft vergeblich um Sponsorgelder für den Bau eines neuen 40-Meter-Trimarans. Dafür legt Bruno Peyron 1993 mit seinem Maxi-Katamaran Commodore Explorer die erste Referenzzeit auf 79 Tage fest.


Es beginnt das lebenslange Dilemma von Florence. Auf dem Meer fällt ihr alles einfach. Man segelt von A nach B und das möglichst schnell. An Land ist ihr alles zu kompliziert. 1993 wird sie Mutter von Marie – der Vater ist der Segler Loïc Lingois, von dem sie sich schon bald scheiden lässt. Florence ist ab da auf kleineren Booten am Regattieren – Hauptsache, sie kann auf dem Meer sein. Neben Atlantikregatten mit Jean Le Cam, Philippe Poupon und Bruno Peyron segelt sie auch die Solitaire du Figaro mit. Doch sie gibt ihre grossen Pläne nicht auf. Für ihre nächste Idee einer Einhand-Weltumrundung mit einem Maxi-Trimaran hat sie Sport-Elec von Olivier de Kersauson im Visier. Doch Geldgeber finden sich trotz Ruhm und Popularität keine.
Tief frustriert durch fehlende Unterstützung wird sie bei einem anderen Herzensprojekt: Zum 20-jährigen Jubiläum ihres Sieges bei der Route du Rhum möchte sie mit dem 30-Meter-Kat Oman teilnehmen. Doch die Eigner ziehen ihr einen Mann vor. Sidney Gavignet muss dann die Regatta wegen einer Havarie aufgeben. Eine deprimierte und sponsorlose Florence macht mit negativen Schlagzeilen von sich reden – wegen Alkohol am Steuer verliert sie ihren Führerschein. Auch die Hochzeit mit ihrem langjährigen Freund und Hochseesegler Eric Charpentier gerät 2005 zum Flop. Schon bald nach der Trauung in der romantischen Kirche auf der Insel Porquerolles fliegen die Fetzen – es reicht nicht mal für die vorgesehene Flitterwoche auf den Seychellen und das Paar geht auseinander. Verbittert zieht sie sich zurück. In Madrague de Montredon, einem kleinen Fischerdörfchen zwischen Marseille und den Calanques, findet sie mit Tochter Marie ihren Heimathafen. Das Flachdach lässt sie zur Terrasse umbauen, damit sie freien Blick aufs Mittelmeer hat. Ihre Freunde sind die Fischer, die sie als eine von ihnen akzeptieren. Weniger Glück hat sie mit ihrer Galerie Flow. Bei den Vernissagen mit Speis und Trank ist der Andrang gross, beim Bilderkaufen lässt die Begeisterung stark nach.
Auf den Fotos dieser Jahre ist ihr Gesicht gezeichnet von den Exzessen, aus denen sie keinen Hehl macht. Mit rauer Stimme setzt sie sich für die Gleichberechtigung von Frauen ein, für viele Seglerinnen wie Isabelle Autissier oder Catherine Chabaud (die aktuelle Präsidentin des Yacht Club de France) hat sie den Weg geebnet.
In ihren letzten Jahren schreibt sie sich das Engagement für die feministische Sache auf die Fahne und pflegt eine Beziehung mit der Regisseurin Kaya Lokay. Sie nimmt magersüchtige junge Mädchen zum Segeln mit, um ihnen im Rahmen des Projekts «Croisières de guerrières» (Kreuzfahrten der Kriegerinnen) das Meer näherzubringen und organisiert die Regatta «Les voiles de la liberté» (Die Segel der Freiheit) mit Frauenteams aus dem Maghreb und dem Libanon.

1988 kentert sie mit ihrem Trimaran. Sie und ihre Crew werden mit dem Helikopter gerettet.
DER TOD ALS BEGLEITER
Nachdem sie bei ihrem Autounfall fast ums Leben kam, blieb der Tod immer ein Teil ihres Lebens. Bei ihrer dritten Route du Rhum ändert sie ihren Kurs, um bei schwerem Wetter einem Konkurrenten in Not zu helfen. Zwei Tage später trifft sie jedoch nur den gekenterten Katamaran Royale an, von Skipper Loïc Caradec fehlt jede Spur. Natürlich gehen ihr die Schicksale der Hochseesegler wie Alain Colas und Freund Eric Tabarly unter die Haut. Doch der Tod ihres älteren Bruders ist ein tiefer Schock: 2001 nimmt sich Jean-Marie auf dem Familienschiff in einer der Calanques das Leben.
2011 trifft es fast Florence selbst. Nur mit ihrer Katze als Crew, segelt sie nachts zwischen Cap Corse und Elba, als sie über Bord geht. Das Boot fährt unter Autopilot weiter. Zum Glück kann die unglückliche Skipperin mit dem Mobiltelefon ihre Mutter avisieren. Dank dem Anruf kann sie lokalisiert und gerettet werden. Stark unterkühlt wird sie ins Krankenhaus von Bastia eingeliefert, welches sie Tags darauf bereits wieder verlässt und witzelt: «Es war nicht mein Tag, es war ein echtes Wunder.»

DAS LANGE LEBEN VON PIERRE 1ER
Pierre 1er wurde 1989 vom Schiffsarchitekturbüro VPLP Design entworfen und bei Jeanneau gebaut. Investor war die Immobiliengruppe Pierre 1er. 1993 wurde das Boot an Steve Fossett verkauft, der es in Lakota umbenannte und weiter Regatten segelte. Eine Nachbildung ist im Film Waterworld zu sehen. Im Jahr 2000 kaufte das schwedische Team Atlant Group den Trimaran. Er wurde nacheinander in «Sony», dann 2001 in «Pindar», 2002 erneut in «Sony», 2003 in «Nicator», 2004 in «Tieto Enator L’Oréal», 2007 in «Lakota» und 2008 in «Sjovillan» umbenannt. Im Jahr 2011 ging der Trimaran an einen in Hongkong ansässigen Franzosen, der ihn als schnellen Cruiser einsetzte. 2022 wird der Racer von Philippe Brillault gekauft und nach Frankreich zurückgebracht. Philippe Poupon macht ihn für die Route de Rhum unter dem Namen «Flo» flott und gleichzeitig spielt er die Hauptrolle im gleichnamigen Film über das Leben von Florence Arthaud. Im Oktober 2024 wechselt der unverwüstliche Trimaran zu Nautic Sport aus Trinité, wo er für Events und Teambuildungs gemietet werden kann.
T: Stefan Detjen
F: ALEA/Archives F. Arthaud

