Archimedes bekommt Flügel

Im ersten Artikel unserer dreiteiligen Serie haben wir die AC-Geschichte bis heute beschrieben. Nun betrachten wir genauer die Boote und das Design. Um dies herauszufinden, reiste Jürg Kaufmann nach Barcelona, wo er zwei Tage lang Alinghi Red Bull Racing besuchen und mit Designern, Seglern und Coaches sprechen durfte. Hier kommen die exklusiven Insights…

Wir erleben gerade eine neue Ära des America›s Cups. Der Cup war schon immer voller Überraschungen aller Art, aber dieser hat es in sich. Die erste Überraschung: Der französische AC-Cupper von Team Orient Express ist baugleich mit dem Boot des Verteidigers Emirates Team New Zealand. Inklusive der versteckten Designgeheimnisse wie dem Grosssegelbaum, der sich im Rumpf befindet, wurde dort alles mit eingebaut.

Doch sprechen wir nicht mehr von Booten, sondern eher von übers Wasser fliegenden Konstruktionen. Die Designer nennen sie einfach «Plattformen». In Barcelona hatte ich die Gelegenheit, auf der Teambasis des Alinghi Red Bull Racing mit Adolfo Carrau, dem Designkoordinator, ausführlich über das Design der aktuellen AC75 zu sprechen.

Die Plattform muss eine solide und dennoch so leicht wie möglich gebaute Struktur sein, welche die Belastungskräfte tragen kann. Ausserdem muss sie die gesamte Technik aufnehmen und sich vollständig ins Segeldesign integrieren lassen. Von hinten nach vorne gegliedert umfasst dies:

1.         Ruderanlage

2.         Trimmtechnik des Grossegels

3.         Crew, bestehend aus 2 Steuermännern, 2 Trimmern und 4 Velofahrern für die Hydraulik

4.         Mast und Verstagung

5.         Foilarme und Mechanik

6.         Drei unabhängige hydraulische

            Systeme inkl. Batterien

5.         Trimmtechnik des Vorsegels 

Ready for Take-off

Im Wasser vor dem Take-off ist die Verdrängung optimiert, um maximalen Auftrieb und wenig Widerstand im Wasser zu generieren. Nach dem Take-off liegt der Fokus auf der Reduktion des Luftwiderstands und der Optimierung der Luftströme in die Segel. Ab etwa 6 Knoten Wind ist der Auftrieb der Foils im Wasser ausreichend, um die Plattform zum Fliegen zu bringen. Die Platform inklusive das  Unterwasserschiff ist so konzipiert, um zusammen mit der Segelwahl genügend Auftrieb zu generieren, ohne den „Take-Off“-Moment durch die Verdrängung zu verzögern. Hebt der Rumpf vom Wasser ab, verdrängt der untere Rumpfteil kein Wasser mehr, sondern nur noch Luft.

Eine AC-Regatta wird nur gestartet, wenn Windgeschwindigkeiten zwischen 6.5 und 21 Knoten herrschen. Fällt der Wind während der Regatta unter 6 Knoten, können sich die Cup-Boote nicht auf den Foils halten und segeln wieder wie konventionelle Verdrängeryachten. Das bringt für die Teams erste Fragen: muss das Design eher den Verdränger- oder Flugmodus berücksichtigen? Wie viel Zeit sollen die Crews ins Training von konventionellem Segeln oder Foilen investieren?

Dazu kommt noch die Zeit- bzw. Wetterkomponente. Im August und September segeln die Herausforderer um den Platz im America’s Cup Match gegen den Verteidiger Emirates Team New Zealand. Die Bedingungen werden jedoch ab Ende September härter. Adolfo Carrau vergleicht es mit einem Formel-1-Auto, das geradeaus fährt; die Winde werden stärker, die Wellen höher – «the road is getting bumpier». Die Herausforderer müssen jedoch schon vorher das Optimum aus ihrem Design herausholen und sind gezwungen, entsprechende Kompromisse einzugehen. Der Verteidiger braucht sich lediglich auf die Bedingungen ab Oktober zu konzentrieren und profitiert zusätzlich noch vom aufschlussreichen Vergleich, wie sich das französische Schwesterboot gegenüber den anderen vier Herausforderern schlägt.

Durch den Verkauf des Designpakets bekam das Emirates Team New Zealand Geld in die Kasse – und die Franzosen konnten ihren Rückstand im Wettbewerb etwas aufholen. Die Kiwis gehen sparsam mit ihren finanziellen Mitteln um. Anstatt ihr Cup-Boot per Luftfracht nach Barcelona zu spedieren, kam «Taihoro» per Frachtschiff nach Spanien. Den wochenlangen Zeitverlust beim Training werden die Jungs um Grant Dalton jedoch schnell wieder wettmachen.

Knackpunkte für die Designer

Hat das Designteam seine Hausaufgaben richtig gemacht, kommt das schnellste Boot aufs Wasser. Würden alle gleich rechnen, wären alle Boote gleich schnell. Und doch müssen die AC-Yachten in unterschiedlichen Wind- und Wellenbildern ihre Bestleistungen bringen können. Wer hat die besten Prognosen über das launische Mittelmeer-Revier vor Barcelona? Welches Team verfügt über den perfekten Kompromiss für die Ausscheidungsregatten im Sommer und das Finale im November?

Es ist keine Hexerei, eine Yacht bei normalen Bedingungen schnell zu machen. Erfahrung beim Segeldesign existiert genug, die Strömungslehre ist bekannt und auch bei der Verwandlung vom Schiff in ein fliegendes Objekt steht die Aerodynamik beratend zur Seite. Schauen wir den Designern über die Schultern, mit welchen Problemen und Dilemmas sie zu tun haben.

Wenn das Cup-Boot bzw. die Plattform einmal fliegt, gibt es aus Sicht der Designer noch zwei entscheidende Elemente: Widerstand (englisch «drag») reduzieren und den Antrieb (englisch «propulsion») optimieren. Dabei gelten die gleichen physikalischen Grundlagen wie bei Flugzeugen. Wasser hat eine höhere Dichte als Luft, somit sind die Foils bzw. die Hydrodynamik massgebend. Bei Geschwindigkeiten um die 100 km/h spielt jedoch die Aerodynamik eine wichtige Rolle. Beim Betrachten der Rümpfe sehen wir, dass die Designteams ähnliche Lösungen gefunden haben. Nur das Boot der Engländer ist extremer. Ob sich das auszahlt, werden wir im Juli erfahren, wenn die Teams das erste Mal im Training gegeneinander segeln dürfen.

Das Rigg

Schub durch Segel bedeutet, dass auch bei enormen Belastungen jedes Segel einzeln optimal getrimmt wird. Es sind drei Segel, nicht nur zwei. Das Grosssegel besteht aus zwei voneinander unabhängigen Segeln, die zusammen einen Flügel bilden. Keines der sechs AC-Boote verfügt über ein Backstag, was die Belastung für die Grosssegel-Trimmeinrichtung erhöht und auch die Lastverteilung gegenüber einer normalen Yacht drastisch verändert.

Ein Traveller wie bei vielen Yachten oder ein im Rumpf versteckter Grossbaum – diese Ansätze fanden wir bereits bei Luna Rossa Pirelli im letzten Cup sowie bei Emirates Team New Zealand und jetzt entsprechend auch bei den Franzosen. Das gleiche gilt für die Fock, das Vorsegel – hier scheint es ebenfalls verschiedene Designlösungen zu geben: mit einem Traveller oder mit einem eigenen Baum. Die Holepunkte und Lasten aller drei Segel werden konstant hydraulisch angepasst.

In der Woche nach dem Besuch in Barcelona brach der Mast der Schweizer. Die genaue Ursache wurde nicht veröffentlicht, aber eine Theorie bestätigt die enormen Lasten im Mast und in der Takelage. Reduziert sich der Druck von der Grosssegel-Trimmeinrichtung, erhöht sich der Druck auf den Cunningham. Einige Experten glauben, dass dies zum Mastbruch geführt hat.

Für mich zeigt das Positive an diesem Unfall die Professionalität, die das Schweizer Team beweist. Zwei Tage später waren sie bereits wieder am Segeln. Gut zu wissen: der Mast ist ein One-Design von Southern Spars, somit sind Ersatzmaste vorhanden. Aber die Detailarbeiten von teamspezifischen Änderungen sind nicht zu unterschätzen. Bravo Alinghi Red Bull Racing.

Die Aerodynamik

Die Konstruktion des Rumpfs hat nicht nur Einfluss auf den Wasserwiderstand, sondern sorgt auch dafür, dass der Wind effektiver durch die Segel strömt. Ein gut durchdachter Rumpf kann den Windwiderstand verringern und gleichzeitig die Effizienz der Segel steigern, was in einer höheren Gesamtgeschwindigkeit resultiert. In diesem Cup sehen wir nur noch die Köpfe der Steuermänner und Trimmer; alle Elemente der Plattform sind aerodynamisch angeordnet und «verpackt». Die Italiener gehen noch einen Schritt weiter: Der Steuermann sitzt in einem Cockpit wie in einem Flugzeug. Antrieb erhöhen und Widerstand reduzieren, eine einfache Zielsetzung, aber eine komplexe Aufgabe. Schon befinden wir uns mitten in der Aerodynamik und Hydrodynamik. Die Designer unterscheiden zwischen zwei Widerständen, welche Einfluss auf den Gesamtwiderstand der Yacht nehmen. 

Das Diagramm zeigt, wie sich diese unterschiedlichen Widerstandsarten mit der Veränderung der

Segelgeschwindigkeit verhalten. Ähnlich wie bei einem Flugzeugflügel ist bei niedrigeren Geschwindigkeiten der parasitäre Widerstand bedeutender. Bei steigender Geschwindigkeit wird der induzierte Widerstand dominanter.

Die Foils

Das grosse Thema und unendlich komplex: die Grundlagen der Physik wie Widerstand, Auftrieb, Anstellwinkel, Kavitation, Strömungsabriss und Reduktion der Gischt spielen hier eine entscheidende Rolle. Die Foils werden über zwei grosse Arme gesteuert: Die vorderen grossen Foils verfügen zusätzlich über verstellbare Flaps, die hydraulisch von Hand gesteuert werden. Damit kann nicht nur der Auftrieb reguliert werden, sondern auch die Höhe am Wind, auf der die Plattform segeln kann. Einige Teams arbeiten mit zwei Flaps, die bei hohen Geschwindigkeiten feinere Einstellungen ermöglichen, dann jedoch auch mehr Turbulenzen erzeugen. Jeder Vorteil hat auch seinen Nachteil. Die Italiener arbeiten im Moment mit einem grossen Flap pro Foil. Es wird sich zeigen, was am Schluss im Cup tatsächlich eingesetzt wird.

Die Flügelspitzen sind aufgebogen wie an Jets; diese sogenannten „Winglets“ helfen in verschiedenen Formen, Wirbel an den Spitzen der Foils zu vermeiden und lokale Kavitation zu reduzieren. Wirbelgeneratoren werden angebaut, um Strömungsablösungen zu kontrollieren und eine gleichmässigere Wasserströmung über der Oberfläche aufrechtzuerhalten.

Das Foil am Ruder wird durch den Anstellwinkel gesteuert. Die dazugehörige Mechanik und Hydraulik ist am Heck untergebracht. Auch hier sind unterschiedliche Lösungen der Designteams erkennbar.

Die Hydraulik

Das Hydrauliksystem auf den Plattformen besteht aus drei verschiedenen Systemen, jedes steuert einen eigenen Bereich. Zwei davon sind One-Design, der Druck wird mit Energie aus Batterien aufgebaut und ist für alle Teams gleich. Damit wollen die Teams Kosten sparen, aber auch bei der Sicherheit einen gewissen Standard erreichen. Das Hydrauliksystem für den Trimm der Segel erhält seine Druckpower durch die «Radfahrer» der Crew und wurde durch das Team entwickelt.

1. Flight Control System

Damit werden die Einstellungen bzw. die Flaps der Foils gesteuert. Momentan stellt sich die Frage, ob ein grosser Flap über den ganzen Foil oder auf zwei aufgeteilt werden soll, da alle Teams mit T-Foils segeln. Zusätzlich steuert dieses System auch den Anstellwinkel der Ruderanlage mit dem Foil.

2. Foil Canting System

Damit werden die zwei grossen Arme mit den Foils bewegt. Die Kräfte sind so gross, dass die Teams schon im letzten America’s Cup entschieden haben, eine gemeinsame Lösung zu bauen, um die Sicherheit zu gewährleisten und die Kosten unter Kontrolle zu behalten. Die Foilarme müssen

ca. 35 Tonnen Last aushalten.

3. Sail Control System

Das dritte Hydrauliksystem in der Plattform ist für den Segeltrimm verantwortlich. In den Bildern sehen wir die Technik zum Trimm des Grosssegels, bestehend aus zwei Segeln. Eine Regatta bedeutet rund 30 Manöver. Die Aufgabe der «Cyclists» ist weit komplexer, als man denkt. Kein Mensch, sei er noch so gut trainiert, kann 30 Hochleistungen in einer Zeit von ca. einer Stunde liefern.

Nils Theuninck, der Schweizer Finnsegler, ist einer der «Energiegeneratoren» und sagte, er sei sehr froh darüber, ein echter Segler zu sein und somit besser abschätzen zu können, wann er am meisten Leistung erbringen muss. Jeder Velofahrer kann nur eine begrenzte Anzahl an Top Peaks liefern, die Erholung dazwischen dauert manchmal nur ein paar Sekunden.

Wer gewinnt den Cup?

Das beste Boot und die beste Crew. Einige Experten glauben, am Ende werden die Geschwindigkeiten ähnlich sein. Wenn das stimmt, bedeutet es eine Rückkehr zum echten Matchracing – und das mit Plattformen, die mit 100 km/h übers Wasser fliegen. Es bleibt spannend…

DER AUTOR
Jürg Kaufmann ist als Segler seit Jahrzehnten in der internationalen Regatta-Szene zu Hause, zuerst als Segler, dann 20 Jahre als internationaler Matchrace-Umpire. Der Mitinitiant des Wave Magazins gehört zu den grossen Top-Fotografen im Yachting und war an drei Olympischen Spielen, diversen Volvo Ocean Races präsent und deckt aktuell seinen vierten America’s Cup Event ab.

www.juergkaufmann.com

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