Als wir das erste Mal Fuß und Pfötchen auf madagassischen Boden setzen, befinden wir uns im Kanal von Mosambik auf der Reise von Südafrika nach Tansania. Bordhund Nico zuliebe steuern wir eine der winzigen Barren-Inseln vor der Westküste Madagaskars an, die wir unbewohnt wähnen.
Doch nach ein paar Schritten auf dem feinen, weißen Sand kommt eine wild gestikulierende Prozession auf uns zu. Ein gebückter Alter am Stock, gefolgt von Halbwüchsigen, Frauen und Männern, führt sie an. Dabei fuchtelt er ständig mit seiner freien Hand, zeigt auf Nico und verkündet lautstark irgendetwas, das wir nicht verstehen. Hühner flattern umher, Gänse schreien und die Prozession in flirrender Sonne erinnert an Filmszenen surrealistischer Regisseure. Ein Gefühl der Verunsicherung überfällt uns hier am Ende der Welt. Wir rufen Nico zurück und legen einen fluchtartigen Abgang hin. Die Insel taufen wir auf den Namen „Buñuel“.
Ganz anders erleben wir Madagaskar in der Moramba Bay weiter nördlich. Der berühmte brasilianische Fotograf und Pulitzer-Finalist Sebastião Salgado hat die fragilen und mit riesigen Baobabs bewachsenen Korallenfelsen, die wie Pilzköpfe aus dem Wasser ragen, in eindrücklichen Schwarzweißfotos festgehalten. Diese geisterhaften Gewächse, die an prähistorische Tiere erinnern. Gut vorstellbar, warum sie den Madagassen als beseelte, heilige Wesen erscheinen. Die Bäume sind die Heimat der schwarz-weiß-gestreiften Lemuren, die sich immer wieder in ihren Wipfeln zeigen. Das Licht und die Farben von Himmel, Meer und Wald in der Moramba Bay wecken die Sehnsucht, ein paar Wochen in dieser Lagune zu verbringen.
Inseln, Flüsse und Lagunen
In schlichten Einbäumen kommen Besucher längsseits. Da sind Vater und Sohn, die ein Shampoo gegen Läuse erbitten. Oder die dürre Frau, die allein paddelt, und nach Milchpulver fragt für ihr Baby. Das fast baumlose Hinterland lockt mit mehreren Seen. Angesichts der Schönheit dieser in Gold und Rot schimmernden Savanne wird uns die traurige Wahrheit dahinter klar. Wir denken an den Fotografen Salgado, der in seiner Heimat in einem spektakulären Projekt auf der Farm seines Großvaters bewiesen hat, dass man sehr wohl Regenwälder auf ausgelaugter Erde zum Leben erwecken kann. Auf Madagaskar behauptet man stur, das ginge nicht.
Ein Club im Krater und eine Stadt aus der Hölle
Zum offiziellen Einklarieren kommen wir zum Yacht Club Baie de Cratère (Crater Bay) auf der touristisch erschlossenen Insel Nosy Be im Nordwesten Madagaskars. Vom Yachtclub unternehmen wir Spaziergänge in das nächste Dorf, das sich zu einem belebten Ferienort gemausert hat. Neben Englisch und Französisch hören wir auf der Straße Polnisch und vor einem Restaurant weht die polnische Flagge. Es gibt Pierogi, Gołąbki (Krautwickel) und Piwo (Bier), was wir sofort auf Authentizität prüfen.
Nosy Be ist als die „Duftinsel“ bekannt. Ihre Hauptstadt heißt weniger einladend Hell-Ville, „Stadt der Hölle“, wenn man es englisch übersetzt. Doch benannt ist der Ort nach dem französischen Admiral Anne Chrétien Louis de Hell, ehemals Gouverneur von La Réunion. Die Stadt präsentiert sich mit einem hübschen Boulevard und einigen aus der Kolonialzeit stammenden Gebäuden freundlich und aufgeräumt.
Quirlig geht es in der Markthalle zu. Hier werden geflochtene Körbe, Taschen und die typisch madagassischen Bodenmatten feilgeboten, aber auch mit grauem Schlamm bedeckte, lebende Krebse und anderes Zeug, das man weniger gerne aufs Schiff mitnimmt. Einige Händler bieten die duftenden Essenzen aus Ylang-Ylang und Vanille sowie Gewürze und Blumenextrakte an, weswegen Nosy Be ihren Beinamen trägt.
Im „Haus der Gewalt“
Gefängnisinseln sind immer spezielle Orte. Wir „sammeln“ sie gewissermaßen: Ilha Grande, Brasilien, Robben Island, Südafrika und Nosy Lava, die „Lange Insel“, vor Madagaskar. Beim Anlanden begrüßen uns zwei bärtige Männer in zerrissenen Hosen und verblichenen T-Shirts. Sie bieten eine Führung an durch das aufgelassene, teils zerstörte „Maison de Force“. Im Gänsemarsch, allen voran Nico, geht es durch eine verdorrte Steppenvegetation – auch hier wachsen kaum noch Bäume. Zu sehen gibt es eine kleine Kirche mit Altar, die Gemeinschaftsküche, Plumpsklos mit der typischen französischen Hockvorrichtung, viele mit Zeichnungen ausgemalte Zellen, die so manchen verhinderten Künstler verraten, Wachtürme und das Kasino des Wachpersonals. Die pornographischen Darstellungen an den Wänden machen unsere Führer etwas verlegen.
Der ältere der beiden, Samuel heißt er, war selbst sein halbes Leben hier inhaftiert. 20 Jahre, plus die Zeit danach, sagt er. Von 1911 bis 2002 – erst französisch, dann madagassisch – war die Nosy Lava ein Gefängnis für Verbrecher, Kleinkriminelle, politisch Unliebsame, Aufständische, die Separatisten von 1949 und einige Unschuldige. Die Bandenbosse kauften sich ‚Stellvertreter‘, die an ihrer Stelle absaßen. Bis zu 700 Mann waren im „Haus der Gewalt“ eingesperrt.
Am eindrücklichsten ist die Abteilung, die den Schwerverbrechern und den politischen Gefangenen vorbehalten war. Winzige Zellen mit dicken Stahltüren, die sich um einen kleinen Innenhof mit mannshohen Mauern gruppieren. Unerträglich heiß ist es hier. Die Räume sind dunkel, die schweren Türen quietschen. Wir gehen schnell wieder hinaus und trauen nicht, zu fragen, welcher Kategorie Samuel angehörte.
Am Ende der Tour wendet er sich an uns wegen seiner Augen- und Hautinfektionen, voller Vertrauen in unsere nicht vorhandenen Medizinkenntnisse. Am nächsten Tag bringen wir Salben und Tabletten. Zum Abschied fällt uns auf, dass Nico nicht mehr da ist. Wir rufen und pfeifen. Was ist passiert? Wir suchen zwischen den Zellen und hören leise ein Kratzen. Eingesperrt hinter einer den rostbraunen Stahltüren der Einzelzellen entdecken wir unseren Hund. Vor lauter Erleichterung aber auch Komik der Szene lachen wir alle gemeinsam. Wenigstens das verbindet.
Auf den Spuren der Russen
Südlich von Nosy Be auf der Festlandseite öffnet sich eine vor jedem Wetter geschützte Bucht, die unter dem Namen Ambavatory oder Russian Bay bekannt ist. Wir verlieben uns in diese lagunenartige Landschaft und lassen den Anker vor einem kleinen Restaurant fallen. Der Besitzer ist Österreicher. Andre lebt mit seiner Malagassi-Frau und einem gemeinsamen Sohn seit vielen Jahren hier. Vor dem offenen Holzhaus stehen ein paar Tische in feinem Sand. Quietschgrüne Geckos und tiefschwarze Lemuren mit buschigen Schwänzen grüßen vom Dachbalken herunter. Das Tagesgericht auf Bestellung ist mal das „Rennradfahrerhuhn“ – so genannt ob seiner zähen Muskeln, die eine 12-stündige Kochprozedur erfordern –, mal ein in den Wäldern gefangenes Wildschwein, Gemüse nach Saison oder Fisch, der noch vor kurzem um das eigene Boot schwamm.
Der Name Russian Bay lässt an Wodka und Kaviar denken. Man erzählt eine Geschichte, die im Jahr 1904 begann. Zu jenem Zeitpunkt befahl Zar Nikolaus II. seiner Flotte, Japan anzugreifen. In der Ambavatory Bay kamen die russischen Schiffe zusammen, um weitere Befehle zu erwarten. Die Soldaten litten an der Hitze und am unlöschbaren Durst: „Wir tranken Unmengen von destilliertem und gefiltertem Meerwasser. Dieses lauwarme Wasser schmeckte ekelhaft, wenn man nicht ein wenig Zitronensaft hineingab“, berichtete der Matrose Nowikow-Priboy. 45 Schiffe lagen hier vor Anker und 12.000 Mann hatten Landgang! Zwei Monate vegetierten sie dahin, bis endlich der Befehl zum Angriff kam. Die russischen Matrosen in ihren geringelten Shirts, sie haben diese Schlacht nicht überlebt.
Die Geschichte, die man sich in der Russian Bay erzählt, hat ein anderes Ende: Ein Schiff, die „Vlotny“ (oder vielleicht auch Ulotny, was passenderweise „flüchtig“ bedeutet), soll sich vor der Seeschlacht gedrückt haben und hier in die Bucht zurückgekehrt sein. Das ist nicht bestätigt, aber im Gebüsch unweit des Restaurants stoßen wir auf verfallene Gräber. Über einen der Grabsteine hat ein russischer Besucher ein blauweiß gestreiftes Matrosen-Shirt gezogen.
Wo Honig fließt und Schweine quieken
Die Seekarte zeigt Barren und Flachs in der Mündung des „Honigflusses“ Baramahamay. Linker Hand ein Dorf mit traditionellen Holzbauten, rechts lange Strände mit verzweigten Sandbänken und Wasserläufen, darüber rote Hügel und weiter hinten eine ausgedehnte Mangrovenlandschaft. Eine luftige Hütte auf Pfählen lädt zum mittäglichen Schläfchen ein. Der Anker fällt, und schon kommen die ersten Auslegerkanus angepaddelt.
Wir staunen nicht schlecht, als die Leute tatsächlich Honig zum Kauf anbieten! Nach den Honigvermittlern tauchen Fischer auf, die nach Angelhaken, Leinen, Netzen, T-Shirts und Kappen fragen, doch nichts verkaufen. Später kommen noch Brotverkäufer und jene mit dunkelroten Langusten, die wir ein Mal kaufen, aber letztendlich haben wir diese farbenprächtigen Tiere lieber vor der Tauchermaske als im Kochtopf. Wir entschließen uns, dem Nächsten, der vorbeikommt, eine unbenutzte Angelausrüstung zu schenken. Der Glückliche entpuppt sich als der Lehrer des Dorfes und er lädt uns zu einer Besichtigung ein.
Am Nachmittag, wenn weniger heiß ist, machen wir uns mit Nico auf zum „Honigdorf“. Es ist das sauberste, das wir in Ostafrika bisher gesehen haben! Es fehlen die üblichen Berge an Plastik. Die Wege sind gekehrt, die Hütten in tadellosem Zustand. Stolz ist der Lehrer-Fischer auf seine Schule, die sogar eine bescheidene Bibliothek aufweist. Ein paar Kinder setzen sich brav auf die Bänke und schauen uns mit erwartungsvollen Gesichtern an. Tradition wird hier groß geschrieben, denn weder eine Kirche noch eine Moschee ziert die Dorfmitte, stattdessen ein Versammlungshaus. Irgendwo soll es auch heilige Bäume geben.
Das Dorf auf der anderen Flussseite trumpft mit einer Resto-Bar auf, die wir tagsüber trockenen Fußes betreten, um am Abend zu merken, dass wir fast schwimmend zum Dingi zurückkehren müssen. Die Tide bildet direkt vor dem Haus eine große Lagune. Spätestens jetzt versteht man die Pfahlbauten. Wie immer auf dem Land, ist das Gewünschte vorzubestellen. Die tüchtige Chefin bietet uns Wildschwein an. Das Tier ist noch irgendwo in den spärlichen Wäldern unterwegs. Es wird nicht gleich erschossen, sondern gefangen, und lebend bis zum Restaurant gebracht. Dort quiekt es elendig, angebunden in praller Sonne. Ich schwöre, nie wieder ein Tier „zu bestellen“, und auf keinen Fall ein wildes Schwein von Madagaskar.
T: Joanna Barck
F: Marcel Dolega/Joanna Barck