SAMUEL PLIMSOLL -PLIMSOLL’S ZOLL

Warum Kohlehändler Plimsoll sein Zeichen auf Schiffen sehen wollte und damit Hunderte oder Tausende von Seeleuten vor dem nassen Grab rettete. Selbst der lange Weg durch die Instanzen konnten The Sailors Friend nicht abschrecken.

Samuel Plimsoll – ein britischer Abgeordneter, der gegen eine Reederschaft zu Felde zog, die absichtlich seeuntüchtige Schiffe ausfahren liess, um bei Schiffbruch die Versicherungssumme zu kassieren. Geboren 1824 in Bristol, machte er im Kohlenhandel ein Vermögen. Er hatte zudem ein erstaunliches Talent, für technische Probleme simple Lösungen zu finden und machte sich als Erfinder einen Namen. 1867 zog er als Abgeordneter der Liberalen ins Unterhaus ein. Bis er 1864 seine erste Seereise von London nach Redcar unternahm, hatte er mit Meer und Seefahrt nichts am Hut. Doch sein Schiff geriet in ein Unwetter. Zur selben Zeit, wie er später erfuhr, sanken vier weitere Schiffe auf der gleichen Route im Sturm. Plimsoll war schockiert. Gleich vier Schiffe gingen samt Besatzung und Ladung einfach unter? Sein Erfindergeist interessierte sich für Massnahmen. Im Vorjahr waren 856 Schiffe untergegangen, keine 10km vom Ufer entfernt, während weitere 149 in Stürmen verlorengingen. Einem guten Schiff mit ebensolcher Crew dürfte das kaum zum Verhängnis werden. Während 1861 bis 1870 registrierte die Handelskammer sogar 5826 Havarien unmittelbar vor der Küste die zu einem Schiffsverlust geführt hatten. Und er erfuhr auch von der erschreckenden Zahl der Seeleute, die dabei ums Leben kamen: 8105.

Die Unglücke geschahen zumeist aus dem gleichen Grund: Die Schiffe schleppten mehr Ladung als von ihren Konstrukteuren vorgesehen war. Sie waren oft in einem erbärmlichen Zustand. An der Ausbildung der Besatzung wurde gespart. Denn wenn ein Kahn unterging, zahlte ja die Versicherung. Die Gesetzgebung unterstützte dies. Seeleute, die sich weigerten, an Bord seeuntüchtiger Schiffe zu gehen, wurde mit Strafen wegen Vertragsbruchs gedroht. Ein Gesetz von 1870 sah dafür zudem drei Monate Gefängnis vor. Kapitäne konnten sogar beim Auslaufen des Schiffes Polizeieskorten anfordern, damit die Matrosen nicht im letzten Moment noch über Bord sprangen.

Aber nun kam Samuel Plimsoll. Im gleichen Jahr seines Einzugs als Abgeordneter sank auch der Frachter ‘Utopia’. Das Schiff hatte bereits eine Markierung vom Hafenmeister bekommen, bis wohin es hätte beladen werden dürfen. Aber die Utopia lag deutlich tiefer im Wasser. Der Kapitän erhob Einspruch, worauf er gefeuert wurde. Sein Ersatzmann protestierte und wurde erpresst, nie mehr ein Schiff zu bekommen, wenn er nicht auslaufen würde. Er fuhr. Drei Tage später sank auch die Utopia. Der Reeder James Hall reichte gemeinsam mit 15 britischen Häfen eine Petition ein, in der die Unterzeichner regelmässige Schiffsinspektionen forderten und vor allem eine Freibordmarke, die anzeigte, wie weit der Rumpf aus dem Wasser ragen musste. Freibord ist die Höhe der Bordwand über dem Wasserspiegel.

Für diese Lademarke plädierte auch William Christopher Leng, Chefredaktor des ‘Sheffield Daily Telegraph’. Samuel Plimsoll sprach mit ihm und besuchte Hall. Er kannte jetzt einen Missstand, den es in seiner Welt nicht geben durfte. Wenn also ein Strich auf einem Schiffsrumpf genügte, um Schiffe vor dem Untergang zu bewahren und Menschenleben zu retten, warum war das nicht schon längst Gesetz?

So fingen seine Entwurfs-Präsentationen für Gesetzesvorlagen an. Er forderte Inspektionen, eine Freibordmarke und eine Begrenzung der Versicherungssummen, damit Reeder nicht länger selbst am Untergang der Schiffe noch Gewinne machten. Aber seine Unterhaus-Kollegen liessen ihn auflaufen. Wie auch in seinen weiteren Versuchen. Schliesslich sassen viele Männer im Parlament, die in die Schifffahrt investiert hatten und als Lobbyisten der Reeder andere Interessen vertraten als der Abgeordnete Plimsoll. Daran konnte auch die nächste Tragödie, der Untergang Dutzender Schiffe vor der Küste von Yorkshire, nichts ändern, die ebenfalls schwer beladen mit Kohle in der Bucht von Bridlington in einer Flaute ankerten. Sie warteten auf frischen Wind, der dann allerdings aus der falschen Richtung kam. Auflandig und in Orkanstärke. Sie schafften es nicht mehr, auf die offene See zu gelangen. Seenotretter versuchten alles, um Schiffbrüchige zu retten. Sechs von ihnen und mehr als 50 Seeleute verloren dabei ihr Leben. Auch diese Schiffe trugen zu viel Fracht und hatten keine Instandhaltung erfahren. Das ‘Penny Illustrated Paper’ schrieb: ‘Höchste Zeit für Plimsolls Gesetz’.

Doch trotz allem scheiterte Plimsoll erneut. Nun wurde er zum Revoluzzer. Er wandte sich direkt an die Öffentlichkeit, an die Gewerkschaften, trommelte eine ausserparlamentarische Opposition zusammen, wie sie das Land noch nie gesehen hatte. Er schrieb ein Buch über das Los der Seeleute, druckte 600.000 Exemplare auf eigene Kosten und verteilte sie über die Gewerkschaften. Es folgte eine Kundgebung in der vollbesetzten Exeter Hall in London im März 1873. Und zum ersten Mal bekam er Unterstützung seiner Kollegen aus dem Unterhaus, sogar von einigen Lords und Würdenträger der Kirche. Darauf schaltete sich Queen Victoria ein und verlangte eine Kommission. Die Handelskammer durfte nach einer Ergänzung der Schifffahrtsgesetze nun Schiffe inspizieren und an die Kette legen. Im ersten Jahr wurden 440 Schiffe kontrolliert, nur 16 von ihnen durften auslaufen. Aber Plimsolls Gegner behielten die Oberhand. Die Kommission kam zum Schluss, dass die Verantwortung für die Fracht bei den Reedern bleiben sollte. Also keine Lademarke.

Weitere Versuche und Vorstösse von Plimsoll wurden weiterhin abgelehnt. Er insistierte und kassierte eine weitere Abfuhr. Alle warteten, dass er sich setzen würde, aber er blieb stehen. Dann brüllte er mit geballten Fäusten und kalkweiss im Gesicht seinen Frust heraus: «Hunderte um Hunderte von anständigen Seeleuten werden jedes Jahr in den Tod geschickt, nur damit ein paar Schurken, in deren Brust kein Herz schlägt, ihre mörderischen Profite einstreichen können!»

Das hohe Haus tobte. Kaum hatte sich die Aufregung gelegt, stand Plimsoll wieder im Parlament. Doch das Unterhaus stimmte wieder gegen seinen Vorschlag. Aber Plimsoll liess nicht locker. Am 22. Mai 1876 legte er seine Reformvorschläge abermals vor. Und diesmal schlug sich die Mehrheit endlich auf seine Seite. Ab sofort galt Strafverfolgung, wenn seeuntüchtige Schiffe in See geschickt wurden. Und an jedem Schiff war die Freibordmarke anzubringen, in der Form, wie sie heute noch gilt.

Ein Kreis, zwölf Zoll im Durchmesser, durch die Mitte verläuft horizontal die Linie, die fortan Plimsolls Namen tragen würde. Bis hierhin darf das Schiff beladen werden, keinen Zentimeter weiter. Und die Regierung verhalf der Lademarke 1890 mit einem Trick zum endgültigen Durchbruch. Sie machten die Lademarke zum internationalen Standard. Fortan durfte kein Schiff mehr in britische Häfen einlaufen, das nicht Plimsolls Marke auf dem Rumpf trug. Same conditions for everyone.

Plimsoll ist zu dieser Zeit bereits schwer krank. Als der unermüdliche Reformer am 3. Juni 1898 in Folkestone stirbt, flaggen alle Schiffe auf Halbmast. Und ein alter Fahrensmann spricht am Grab den Satz, den sich Plimsoll vielleicht sogar als Epitaph gewünscht hätte: ‘Jetzt liegt er unterhalb der Freibordmarke’. So steht es auch auf seinem Grabstein. Der Kreis mit der horizontalen Linie, dann der Name Samuel Plimsoll. Und darunter der Nachruf: The Sailors Friend. Ein Freund der Seeleute, ein Freund der Hartnäckigkeit. Wie schon Napoleon sagte: Die Hartnäckigen gewinnen die Schlachten.

(Gekürzter und überarbeiteter Auszug aus dem Buch «Helden: Die mutigsten Geschichten von See», Ankerherz Verlag.)

T: Isabelle Arnau

F: ZVG

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