Das Schiff war bis 2020 als MS Bremen Teil der Expeditionsflotte von Hapag-Lloyd Cruises. Seit Mai diesen Jahres steht die mit der höchstmöglichen Eisklasse 1A Super eingestufte MS Seaventure in polaren Gewässern im Einsatz. WAVE war auf ihrer ersten Seereise nach einem Besitzerwechsel mit an Bord.
Durch verzögerte Wartungsarbeiten schafft das Schiff die Überführung aus Lissabon gerade noch. Als die MS Seaventure im Hafen von Aberdeen einläuft, wird sie mit traditionell schottischen Dudelsackklängen begrüsst. Am Kai richten die chinesischen Eigentümer der Reederei 66° Expeditions eine aufwändige Einweihungsfeier inklusive beeindruckenden Drachentänzen aus. Selbst der Oberbürgermeister der Stadt spricht zu den geladenen Gästen; «Lord Provost of Aberdeen» David Cameron wünscht dem Schiff, seinen Besitzern und allen Gästen eine sichere Reise und genussvolle Tage auf hoher See.

RAUE SEE
In Aberdeen locken sommerliche Temperaturen in Parks und Biergärten der hübschen Stadt. Das Ganze mutet wie die Ruhe vor dem Sturm an, denn sowohl die Nordsee als auch das europäische Nordmeer können zu jeder Jahreszeit mit stürmischen Verhältnissen und furchteinflössendem Seegang aufwarten. Genau so sollte es auch kommen. Die erste Etappe führt nach Lerwick, dem Hauptort der nördlich des Festlandes gelegenen Shetland-Inseln. Vor meinem Kabinenfenster sieht es aus, als ob ich in den Schleudergang einer Waschmaschine blicke. Das Meer ist wütend und lässt die MS Seaventure ohne Unterlass stampfen. Im Bett liegend fühlt es sich an, als ob ich abwechselnd den Kopfstand machen würde, um gleich wieder aufrecht zu stehen. Einige Mitreisende machen während der Nacht Gebrauch von ominösen Tüten, andere schliessen Bekanntschaft mit dem Schiffsarzt.
NATUR PUR
Auf der neuntätigen Seereise erlebe ich mit den Shetlands und Färöer mir unbekannte Teile Nordeuropas. Am ersten Morgen legen wir in Lerwick an, wo ein Drittel der 23’000 Einwohner der Inselgruppe lebt. Eine dreistündige Bustour führt durch hügelige Graslandschaften, zu geschützten Buchten und dramatischen Klippen. Hier gibt es deutlich mehr Schafe als Menschen, denn kaum ein Fleck Grasland dient nicht als Schafweide. Die Wikinger siedelten ab dem neunten Jahrhundert auf den Inseln. Ihr Erbe ist noch heute unverkennbar und so zeugen zahlreiche historische Stätten vom prägenden Einfluss dieser furchtlosen nordischen Seefahrer.

KLEINE NATION GANZ GROSS
Färöer ist eine Gruppe von 18 Inseln, die zwischen Norwegen und Island den rauen Fluten des Nordatlantiks trotzt. Der Archipel ist geprägt von atemberaubenden Landschaften. Geformt wurden sie über Hundertausende von Jahren durch Vulkaneruptionen, glaziale Einflüsse und gnadenlose Witterung. In und um Färöer erkunde ich bei Landausflügen verschiedene Inseln. So besuche ich das charmante Dorf Bøur mit seinen grasbedeckten Häusern und spektakulärer Aussicht auf die vorgelagerte Bucht. Der beeindruckende Wasserfall Múlafossur gilt als eine der grossen Attraktionen der winzigen Inselnation. Bei Busfahrten entlang einsamer Küstenstreifen gelangen wir zu windgepeitschten, in die tosende See abfallenden Kliffs. Die schmucke Hauptstadt Tórshavn im Südosten der Insel Streymoys überrascht mich. Als politisches und wirtschaftliches Zentrum des Landes verfügt sie über eine umfangreiche Infrastruktur, die jedem Vergleich mit mittelgrossen Städten auf dem Festland standhält. Da wir einige Stunden im Hafen liegen, erkunde ich den charmanten Ort zu Fuss. Vor der Rückkehr an Bord geniesse ich in einer Hafenkneipe ein kühles Bier in der wärmenden Frühlingssonne. Wüsste ich nicht, dass ich unterwegs in Richtung polare Gewässer bin, könnte diese Hafenpromenade irgendwo in Südeuropa sein.


SPIEGELGLATTE SEE
Nachdem die Nordsee das Schiff während der ersten Etappe ordentlich durchgeschüttelt hatte, entschädigt die Fahrt nach Färöer und Island die Gäste mit ruhigen Passagen. Die Weiterreise von den Shetlands ist von purem Wetterglück geprägt. Es weht kein Wind und die Sonne funkelt mit ihrer eigenen Spiegelung auf der aalglatten Wasseroberfläche um die Wette. Den perfekten Seebedingungen entsprechend fläze ich bis in die späten Abendstunden auf dem Sonnendeck. Zeitweise begleiten uns auch Buckelwale, Tümmler und akrobatische Einlagen darbietende Delfine, während am Himmel Dutzende Vogelarten waghalsige Flugkünste unter Beweis stellen. Dass die rund vierundzwanzigstündige Passage von Färöer nach Seyðisfjörður in Island schliesslich eher wie eine Ausflugsfahrt auf dem Bodensee anmutet, überrascht sogar die erfahrene Crew. Bei windstillen Verhältnissen und ohne jeglichen Wellengang gestaltet sich die 550 Kilometer lange Etappe bei spiegelglatter See entsprechend genussreich.
NATURPARADIES ISLAND
Von Seyðisfjörður schwärmen die Passagiere zu diversen Landausflügen aus, um die unbändige Natur im Osten der Insel auf Touren oder Wanderungen zu donnernden Wasserfällen kennenzulernen. Mit an Bord sind vierzehn Zodiacs. Die überdimensionierten Schlauchboote tragen Namen von entlegenen Regionen wie Pitcairn, Nunavik oder Ushuaia und wecken meine Lust auf Abenteuer in der Wildnis. Wir werden ausgeschifft und schon bald erreichen wir eine Armada schnittiger Kayaks. Obwohl mein Ruderpartner und ich wenig Erfahrung mit dieser Art Boot haben, halten wir dank der cleveren Fusssteuerung einen geraden Kurs. Kayaks sind wunderbare Gefährte, um in dieser grossartigen Umgebung zu Entdeckungstouren aufzubrechen. Weitere Landgänge führen zum Vatnajökull Nationalpark, der den grössten Gletscher Europas (7’700 Quadratkilometer) umfasst oder zur Gletscherzunge am Heinabergsee. Hier haben Eisberge und blau-weisse Eisbrocken auf dem Wasser treibend eine surreale Eiswelt geschaffen. Regelrecht die Sprache verschlägt mir der mehr als 60 Meter in die Tiefe donnernde Skogáfoss. Die brachiale Urgewalt dieser unvorstellbar viel Wasser führenden Fälle ist so ohrenbetäubend, dass Unterhaltungen auf Mimik reduziert werden. Ebenso tief beeindruckt mich der Abstecher zum Black Beach. Dass der Himmel hier für einmal alle Schleusen öffnet, passt perfekt. Die mystische Stimmung, die durch den peitschenden Regen entsteht, hätte selbst der genialste Bühnenbildner nicht erschaffen können. Als ob sie aus einer anderen Zeit stammten, wehren sich am Ende des Strandes zwei schroffe Felsnadeln widerspenstig gegen die tosende Brandung. Ein Teil der vertikalen Felswand, die über dem Black Beach aufragt, mutet wie Tausende gigantischer Orgelpfeifen an. Brandung, Salz und Wind haben über Jahrmillionen aus dem Vulkangestein sechseckige Basaltsäulen freigelegt.

WUNDERSAME PAPAGEIENTAUCHER
Wir besuchen Borgarfjörður Eystri, die «Hauptstadt der Papageientaucher». Auf einem grasbewachsenen Felskopf nisten 10’000 Paare dieser wundersamen Meeresvögel. Zwischen April und August verfärbt sich ihr ansonsten dunkelgrauer Schnabel hellorange, um sich wie eine Kapriole der Natur während der Brutzeit ihren orangefarbenen Beinchen anzupassen. Nach einem langen Tag auf Futtersuche über dem offenen Meer kehren die Papageientaucher mit vollgepackten Schnäbeln an Land zurück, um ihren Nachwuchs zu füttern. Bei der Landung wirken die unförmigen Vögel clownesk, denn meist kommen sie im dichten Gras nicht zum Stehen, sondern purzeln kopfüber. Papageientaucher verbringen die Wintermonate über dem offenen Meer. Zu Beginn des Frühlings kehren sie nach Island zurück, wo sie in die Erde gebaute Nester jedes Jahr von neuem in Beschlag nehmen. Berücksichtigt man die Grösse der Tiere – sie sind kleiner als Stockenten – erstaunt es, dass diese monogamen Piepmatze bis 25 Jahre alt werden können. Dank Beringung gelang es Wissenschaftlern, einem Tier sogar 36 Jahre nachzuweisen. Es war ein Methusalem des Himmels.

URBANER KONTRAST REYKJAVIK
Als städtischen Gegenpol zur rauen Schönheit der isländischen Natur präsentiert sich nach dem Ausschiffen Reykjavik. Die moderne Hauptstadt gefällt mir auf Anhieb. Das Stadtzentrum ist kompakt und lässt sich gut zu Fuss erkunden. Entlang der Haupteinkaufsstrasse Laugavegur finden sich Boutiquen, Shops aller Art, zahllose Cafés und Kneipen. Dass Isländer einen guten Sinn für Humor haben, beweist ein Schild über dem Eingang zu einer Bar: «Der Biergarten öffnet, wenn die Temperatur dampfende fünf Grad übersteigt.»

Als städtischen Gegenpol zur rauen Schönheit der isländischen Natur präsentiert sich nach dem Ausschiffen Reykjavik. Die moderne Hauptstadt gefällt mir auf Anhieb. Das Stadtzentrum ist kompakt und lässt sich gut zu Fuss erkunden. Entlang der Haupteinkaufsstrasse Laugavegur finden sich Boutiquen, Shops aller Art, zahllose Cafés und Kneipen. Dass Isländer einen guten Sinn für Humor haben, beweist ein Schild über dem Eingang zu einer Bar: «Der Biergarten öffnet, wenn die Temperatur dampfende fünf Grad übersteigt.»
EIN SCHIFF MIT GESCHICHTE
MS Seaventure wurde 1990 in Japan gebaut. Nach 27 Jahren unter der Flagge von Hapag-Lloyd Cruises wurde das Schiff 2022 vollständig überholt und ging danach an die chinesische Reederei 66° Expeditions über.
Im Stil eines klassischen Kreuzfahrtschiffes verströmt ihre Inneneinrichtung zeitlose Eleganz. Die Staterooms sind so geräumig wie Kabinen regulärer Kategorien auf neuen Expeditionsschiffen. Nur Treppenhäuser und Korridore von damals sind enger und die Anzahl an Gästelounges und Restaurants geringer.
Mit einer Kapazität für 150 Gäste (82 Kabinen und Suiten) verfügt das Schiff über die höchste Eisklasse. Der Fokus der Reederei liegt auf polaren Gebieten. Die angebotenen Reiserouten beinhalten tägliche Anlandungen, bei denen Passagiere einzigartige Naturlandschaften und polare Tierwelten aus der Nähe beobachten können. Dank ihrer Wendigkeit und den relativ kleinen Proportionen läuft MS Seaventure auch Reiseziele an, die mit grossen Schiffen nicht zu erreichen sind.
HAND AUFS HERZ
Den Fakten verpflichtet sei angemerkt, dass ich mit der Titelzeile etwas gemogelt habe: Meine Reise führte nicht ganz bis zum Polarkreis. Seyðisfjörður, der erste isländische Hafen auf meiner Reise, liegt auf 65° 16’ nördlicher Breite – damit fehlten letztlich ein Grad und sechzehn Minuten. Aber nachdem die vollständige Umrundung Islands eine weitere Reiseroute der MS Seaventure ist, beginne ich am besten gleich mit der Planung meiner nächsten Expeditionsseereise, auf der ich den Polarkreis dann mehrfach überqueren werde.
T: Matthias Reimann
F: Frank Liu/Matthias Reimann/Unsplash/Adobe Stock
