Virginie Hériot & Barbara Carstairs – MADAME DE LA MER UND DER PIRAT

IM JULI 1931 LIEFERTEN SICH ZWEI GROSSE DREIMASTSCHONER EIN DENKWÜRDIGES DUELL. ZU DIESEM AUSSERGEWÖHNLICHEN RENNEN DER KLASSISCHEN YACHT-ÄRA HATTE DIE ENGLÄNDERIN MARION BARBARA CARSTAIRS MIT IHRER YACHT SONIA II HERAUSGEFORDERT. IHRE KONTRAHENTIN WAR DIE FRANZÖSISCHE OLYMPIASIEGERIN VIRGINIE HÉRIOT, EIGNERIN DES 490-TONNEN-SCHONERS AILÉE. DIE EIGNERDAMEN WAREN BEIDE SPORTLICH, EXTREM EHRGEIZIG UND SEHR REICH – UND TROTZDEM SEHR UNTERSCHIEDLICH.

Für ein Rendez-vous mit Virginie Hériot begeben Sie sich einfach nach Cannes und flanieren zur Jetée Albert Edouard hinaus. Hier sitzt sie, in Stein gemeiaaelt, und blickt sehnsuchtsvoll über den Vieux Port. Hinter ihr ihre Lieblingsyacht, der 1928 von Camper & Nicholson gebaute Schooner Ailée. Hériots Yachtflotte konnte sich sehen lassen. 1923 hatte sie bereits den von Max Oertz entworfenen 400-Tonnen-Schoner Meteor erworben und ihn in Ailée umbenannt. Auaaerdem lieaa sie sich fast jedes Jahr eine neue 8-Meter-Yacht bauen, insgesamt deren fünf, von Ailée II im Jahr 1922 bis hin zu Ai.lée VI, mit der sie 1928 in Amsterdam die olympische Goldmedaille holte. Aus reichem Hause (ihr Vater war der Eigentümer der Grands Magasins du Louvre) und mit einem segelbegeisterten Vicomte verheiratet, konnte sie ihre Yachtpassion voll ausleben. Dank ihrer Verdienste für den französischen Segel- und Regattasport und ihrer Unterstützung der Marine bekam sie den Übernamen »Madame de la Mer«.

Die neue Yacht wurde zur schwimmenden Residenz für Virginie Hériot, die ihre Villa in der vornehmen Avenue Foch in Paris verlassen hatte, um an Bord ihres Dreimasters zu leben. Ihr C&N-Schoner verschlang Baukosten im Wert von fast 40 Millionen Euro in heutiger Währung. Bei einer Gesamtlänge von 57 Metern und einer Verdrängung von 347 Tonnen verfügte sie über eine Segelfläche von 1.116 Quadratmetern, einen 200-PS-Motor und einen Generator, der den Strom an Bord lieferte und die Winschen und die Ankerwinde betrieb. Vier groaae Kabinen, zwei Bäder, Mahagonivertäfelung, eine Bibliothek mit Klavier und Sofas und alles vollgestopft mit Vitrinen und Nippes aller Art. Trotzdem erwies sich Ailée auch unter Segeln als sehr gut, sie machte leicht 9 bis 10 Knoten am Wind und 14 bis 15 Knoten vor dem Wind.

Im Regatta-Modus war Virginie Hériot ehrgeizig und zäh. Bei diesem 200-Meilen-Rennen hatte sie es mit einer ebenbürtigen Gegnerin mit passender Yacht zu tun. Am Steuer des Dreimasters Sonia II stand Eignerin Marion Barbara Carstairs, in der englischen Motorboot-Rennwelt besser bekannt als »Joe« Carstairs. Ihr 430 Tonnen schweren Dreimastschoner war am Tag des Starts noch keine vier Monate im Wasser und stammte ebenfalls aus der Camper & Nicholson Werft. Die exzentrische und millionenschwere Erbin von Standard Oil liebte Frauen – und daran hinderte sie auch die drohende Enterbung nicht. In den Zwanzigerjahren hatte sie die meisten Motorbootrennen, in der sie gegen Männer antrat, in ihren oft selbst entworfenen Boliden gewonnen. Schlagzeigen machte sie nicht nur als schnellste Frau auf dem Wasser, sondern auch mit ihrem Liebesleben und ihrem männlichen Look. Wenn sie die Ärmel hochkrempelte, um selbst Hand an ihre Bootsmotoren zu legen, konnte man ihre Tätowierungen sehen. Sie liebte Motoren, in Autos und in Schiffen, Geschwindigkeit und Abenteuer. Mit ihrer Sonia II, die als stählerner Dreimastschoner nach der Lloyd’s 100A1+ Klasse für Hochseepassagen konzipiert war – und für die Schatzsuche auf den Cocos-Inseln (aber das ist eine andere Geschichte). Mit einer Verdrängung von 337 Tonnen und einer Länge von 56 Metern über alles waren ihre Abmessungen denen der Ailée sehr ähnlich. Die Yacht verfügte über viele Annehmlichkeiten, die entspanntes Offshore-Cruising und schnelle Atlantikpassagen erlaubten. Drei Badezimmer und ein eichengetäfelter Salon – die Unterkünfte waren einer Millionenerbin durchaus würdig. Auaaerdem gab es einen Fitnessraum mit Ruder- und Fahrradmaschinen, um die sportverrückte Eignerin und ihre illustren Gäste in Form zu halten.

ES GIBT KEINE ZWEITE

Der Kurs der Regatta führte von der Ryde Pier an der Nordostküste der Isle of Wight zum Feuerschiff von Le Havre (das etwa 7 Meilen und 285° vom Cap de la Heve vor Anker lag) und zurück nach Ryde. Nach rund 200 Seemeilen lagen die beiden prächtigen Yachten immer noch dicht beieinander. Im Ziel siegte Ailée nach Handicap mit 9 Minuten und 40 Sekunden Vorsprung. Die schöne silberne Trophäe, eine flache Schale mit einer Meerjungfrau, die über jeden Henkel lugt, wurde von Charles und John Nicholson als »Coupe Nicholson« gestiftet, und Madame Heriot war so begeistert, dass sie eine Nische im Salon anfertigen lieaa, in der die Trophäe dauerhaft ausgestellt werden konnte.

Über die Niederlage war Joe Carstairs ausgesprochen erbost – so wütend hatte ihre Entourage sie noch nie erlebt. Auf der Heimfahrt von der Regatta sprach sie sogar von Auswandern. Das tat sie allerdings erst später, als sie sich 1934 eine eigene Bahamas-Insel kaufte und sich dorthin zurückzog. Um ihr angekratztes Ego zu heilen, ging sie nach der Wettfahrt erst mal mit einer Geliebten auf eine ausgedehnte Weltreise, erlegte in Indien Panther und Krokodile.

EIN MEER, ZWEI SCHICKSALE

Virginie Hériot konnte ihren Erfolg nicht lange feiern. Sie segelte weiter Regatten und wurde ein Jahr später während eines Sturmes zwischen Griechenland und Venedig schwer verletzt. Sie weigerte sich jedoch, ihr Wettkampfprogramm zu unterbrechen und reiste weiter zur Regatta von Arcachon. Während des Rennens auf Aile VII verlor sie das Bewusstsein, erwachte und wurde erneut bewusstlos, als sie die Ziellinie überquerte. Diagnose: gebrochene Rippen und innere Verletzungen. Sie starb am 28. August 1932 mit lediglich 42 Jahren an Bord der Ailée II. Ihre Mutter brachte es nicht übers Herz, ihrem letzten Wunsch nachzukommen und den Körper vor der Küste der Bretagne dem Meer zu übergeben. Statt.dessen wurde sie in der Familiengruft beigesetzt. Erst 1948 erfüllte ihr Sohn ihren letzten Willen und übergab die Überreste seiner Mutter bei Brest dem Meer.

Joe Carstairs übersiedelte nach Whale Cay auf den Bahamas und schuf ein eigenes Inselreich. Sie baute ein groaaes Herrschaftshaus für sich selbst und Häuser für die Einwohner, aber auch Straaaen, einen Laden, einen Leuchtturm, Obstplantagen, eine Kirche und eine Konservenfabrik. Die Einwohnerzahl der florierenden Insel verzehnfachte sich. Ihre Biographin Kate Summerscale schrieb: »Diejenigen, die mit Joe zusammenarbeiteten, bildeten sich ein, Whale Cay sei ein Königreich mit einem allmächtigen Herrscher, einem strengen Kanzler, einer korrupten Kirche, einer gut ausgebildeten Armee, einer Hochseeflotte, einer florierenden Wirtschaft und gehorsamen Untertanen«. Carstairs liebte ihre Rolle als Inselboss und sah sich immer mehr als Pirat, der auf alle Gesetze pfeift, die er nicht selbst erlassen hat.

Wenn es Joe Carstairs auf ihrer karibischen Privatinsel trotz ihren unzähligen Aktivitäten zu langweilig wurde (und sie hasste nichts so sehr wie Mittelmaaa und Langeweile), setzte sie die Segel und lieaa Sonia II Kurs auf Europa nehmen, um ihre Freundin Marlene Dietrich an der Côte d’Azur zu besuchen. Einen ganzen Sommer lang ankerte sie vor dem Cap d’Antibes und traf sich täglich mit der Dietrich, welche ihr den Spitznamen »Pirat« verpasst hatte. Und wenn die Dietrich grade keine Zeit hatte, lud sie Greta Grabo zu sich an Bord ein. 120 Freundinnen soll Carstairs in ihrem Leben gehabt haben – so viele fanden sich in ihrem Fotoalbum, das nach ihrem Tod versteigert wurde. Doch ihre wirkliche Liebe galt Booten, von denen sie nie genug haben konnte. So bestand ihre Bahamas-Flotte aus einem Hochseedampfer in Miniaturformat, einem weiteren 28 Meter langen Segelschoner, einem Rumschmugglerboot, zwei Fischerbooten und einem Versorgungsschiff der US Navy, das sie zu einem Hausboot umfunktionieren lieaa. Als sie 1975 nach Miami übersiedelte, versenkte sie ihr geliebtes Rennboot Estelle IV in einem Bach auf der Insel. Sie starb 1993 friedlich, im Alter von 93 Jahren, in Naples, Florida. Ihr Grab liegt direkt am Meer.

T: STEFAN DETJEN

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